Schikanen in Kinderheim in Brandenburg: Gardinen statt Milchglas
Nach einem taz-Bericht wird die strenge Aufnahmephase im Kinderheim „Neustart“ ausgesetzt. Das Heim bekam unangemeldeten Besuch von der Aufsicht.
Der Träger des Heims gab am Mittwoch bekannt, man werde „konzeptionell daran arbeiten“, das bisherige „Aufnahmeverfahren“ nicht mehr anzuwenden. Und zwar unabhängig vom Ausgang der Überprüfung. Das Heim „Neustart“ mit rund 30 Plätzen für Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 12 und 18 Jahren befindet sich abgelegen in einem Wald bei Jänschwalde, nicht zu verwechseln mit gleichnamigen Heimen in anderen Teilen des Landes. Träger ist der Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) in Lübben.
Fünf Jugendliche, die in dem Heim gelebt hatten, berichteten der taz von Isolation und sehr strengen Regeln. Sie schilderten unter anderem, dass die Türen nach draußen abgeschlossen waren, sie die ersten Wochen allein in ihren Zimmern verbrachten und nicht ohne umständliche Fragen zur Toilette gehen durften. Auch seien sie erst nach zwei Wochen an die frische Luft gekommen.
„Wir haben den Träger der Einrichtung aufgefordert, sich zu den nunmehr konkretisierten Vorwürfen zu äußern“, sagte Antje Grabley am Montagabend. Es handle sich um eine intensivpädagogische Einrichtung für Kinder und Jugendliche mit besonders schwierigem Verhalten. Da es aber eine offene Einrichtung ist, sei jeglicher Freiheitsentzug unzulässig.
Die jetzt erhaltene Zusage beziehe sich auf eine Phase der „Gruppe 1“ im Haus 1 des Heims, die nach Schilderungen der Ehemaligen restriktive Maßnahmen enthielt. „Nunmehr ist sichergestellt, dass derzeit keine Kinder und Jugendlichen diesem Aufnahmeverfahren unterzogen werden“, sagte die MBJS-Sprecherin. Es scheint zu sichtbaren Änderungen zu kommen.
„Hilfestellung zur besseren Lebensbewältigung“
Eine Ehemalige, die noch Kontakt zu Bewohnern des Heims hat, schrieb der taz am Dienstagabend, „Vielen Dank, dass sie uns und den Jugendlichen, die da noch wohnen, geholfen haben.“ Ihr sei berichtet worden, dass „in Gruppe 1 und 2 das Milchglas abkommt und dafür Gardinen drankommen, dass alles abgeschraubt wird, die Türen von 8 bis 18 Uhr geöffnet bleiben und dass sich Jugendliche aus der Neuaufnahme unterhalten dürfen mit anderen Jugendlichen.“
Die taz wollte vom Ministerium und vom ASB-Lübben am Mittwochfrüh eine Bestätigung dafür. ASB-Lübben-Geschäftsführer Sven Meier äußerte sich am Telefon nur kurz. „Wir schreiben ein Konzept fort. Das sind Veränderungen, die immer stattfinden.“
In einer mittags verschickten Stellungnahme kündigt der ASB-Lübben eingangs erwähnte Änderungen an und weist darauf hin, dass er zu einzelnen Behauptungen derzeit keine Stellung nehmen könne – wegen der über die Presse mitgeteilten Ermittlungen der Staatsanwaltschaft. In der Einrichtung würden ausschließlich die „in der Wissenschaft bekannten intensivpädagogischen Maßnahmen“ angewandt. Die Tätigkeit werde jedoch nicht „von Gewalt, körperlichen Bestrafungen o. ä. begleitet“.
Ziel der Einrichtung sei, Jugendlichen, bei denen herkömmliche Methoden der Sozialpädagogik nicht erfolgreich waren, eine „Hilfestellung zur besseren Lebensbewältigung zu geben“, so der Träger. Man habe nur Maßnahmen ergriffen, die für die Entwicklung des jeweiligen Jugendlichen „geeignet und erforderlich“ waren.
Das Jugendministerium reagierte erst am Nachmittag auf unsere Anfrage und teilte mit, dass es an diesem Tag einen unangemeldeten Besuch der Heimaufsicht bei „Neustart“ in Jänschwalde gab. Die MBJS-Mitarbeiter hätten dort überprüft, ob die am Montag abgegebene „verbindliche Erklärung“ zur Änderung des Aufnahmeverfahren und zur Ausstattung der Räume in die Praxis umgesetzt wurde. „Der Besuch hat ergeben, dass deutliche Änderungen vorgenommen worden sind“, teilt Grabley mit. „Gleichwohl sei mit diesem Besuch „die Prüfung der Vorwürfe nicht abgeschlossen“.
Warten auf den Prüfbericht
Wegen des Vorwurfs der verschlossenen Türen hat das Ministerium schon vor vier Wochen die Staatsanwaltschaft Cottbus informiert. Dessen Sprecher Horst Nothbaum sagte der taz, es seien zu wenig Sachverhalte bekannt, die Grundlage für eine Ermittlung sein könnten. Das Jugendministerium arbeite zusammen mit dem Landkreis an einem Prüfbericht. „Darauf warten wir jetzt.“
Holger Ziegler, Professor für Soziale Arbeit
„Es ist gut, dass schnell reagiert wird. Denn was die Kinder- und Jugendhilfe und ihre Behörden zulassen, ist zunehmend furchteinflößend“, sagt Holger Ziegler, Professor für Soziale Arbeit der Uni-Bielefeld. Doch es sei auch ein Problem, dass Behörden nun Praktiken überprüfen, über die sie im Prinzip Bescheid gewusst haben müssen.
Jörg Richert, der Leiter des Trägers „Karuna“, der den Jugendlichen betreut, der der taz als Erster von den Zuständen berichtete, hat nun einen Brief an Familienministerin Franziska Giffey (SPD) geschrieben. Darin bittet er, eine bundesweite Diskussion über „auf Anpassung und Angst ausgerichtete Konzepte“ zu führen, damit man zu einem „liebevollen-respektvollen“ Umgang kommt. Richert: „Wir haben es hier mit einem Erbe zu tun, dem wir uns nach 1945 nicht ausreichend gestellt haben.“
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