Schiffbau im Alten Land am Ende: Eine Werft verschwindet

Die Sietas-Werft bei Hamburg wird im Internet versteigert – gekauft werden kann alles, was sich bewegen lässt. Und das ist ziemlich viel.

Ein großer Kran steht über dem Becken einer Werft

Hat schon bessere Zeiten gesehen: die Sietas-Werft nach der Insolvenz Foto: Jonas Walzberg/dpa/picture alliance

HAMBURG taz | Noch immer ertönt auf der Sietas-Werft die Werkssirene. Der Ton dringt über das weitläufige Gelände mit seinen Verwaltungsgebäuden aus Backstein, seinen riesigen, schiffsgroßen Hallen und seinen turmhohen Kränen. Der Ton dringt nach draußen, über die Straße hin zu den Obstplantagen des Alten Landes mit ihren denkmalgeschützten Fachwerkbauernhöfen. Und sogar gegenüber auf dem Sperrwerk – das die Elbe von dem kleinen Fluss Este abtrennt, an dessen Mündung die Werft liegt – wäre er noch zu hören.

Die Sirene ertönt, denn es ist zwölf Uhr. Mittagspause. Aber es bewegt sich nichts.

Niemand tritt durch die großen Werktore, hinter denen die Stahlplatten für die Schiffe zurechtgeschnitten werden, niemand kommt aus der Montagehalle beim Dock, in der die Schiffsteile zusammengesetzt werden, um dann durch riesige Garagentore ins Freie gelassen zu werden.

„Da, sehen Sie“, sagt Heino Rudolph und zeigt aus dem Fenster seines Büros, aus dem man einen guten Überblick über das Gelände hat. Die Sonne bricht sich in den Fenstern, der Hof, über den die Schienen für die Kräne laufen, liegt verwaist. Nichts bewegt sich.

Heino Rudolph, so steht es auf seiner Visitenkarte, ist bei der Sietas-Werft der „Yard Captain“: er darf die Schiffe auf der Werft navigieren. Eigentlich eine Top-Qualifikation, doch leider: auf der Sietas-Werft wird sie nicht mehr gebraucht. Vor einem Jahr meldete Hamburgs älteste Werft, der Stolz des zu Hamburg gehörenden Obstbauerndorfes Neuenfelde, Insolvenz an, es fand sich kein Käufer. Seitdem wird hier kein Schiff mehr gebaut.

Dafür trifft man, wenn man übers Gelände geht, zwischen den großen Hallen oder auf dem geschundenen, von großen Gewichten eingedrückten Steinpflaster an der Kaimauer, Gruppen von Männern mit Helmen auf dem Kopf. Es sind Angestellte des Internet­auktionshauses Netbid, die im Auftrag des Insolvenzverwalters Kunden herumführen. „Das sind die, die die roten Sticker draufkleben“, sagt Rudolph bitter. Klebt so ein roter Sticker irgendwo, bedeutet das: ist verkauft.

Seit April dieses Jahres wird die Werft versteigert, Stück für Stück. Alles muss raus: die Maschinen in den Hallen, die Kräne auf dem Kai, die Werksfahrräder, die noch immer in ihrem Unterstand warten, als ob die Schicht gleich beginnen würde. Alles, was irgendwie abtransportiert werden kann, taucht nach und nach im Internet auf den Seiten des Auktionshauses auf.

„Da sind Kollegen, die zu Hause sitzen und weinen, wenn sie sehen, wie ihr Büro versteigert wird“, sagt Rudolph.

Und es sind ja nicht nur die Büros. Auf dem Weg in das von Heino Rudolph, das in einem oberen Stockwerk, am Ende eines Ganges liegt, kommt man durch die Räume für die Elektriker. Lange Tische stehen da, noch mit den Kaffeetassen drauf. Über den Stühlen hängen die blauen Arbeitsjacken, als würden die Kollegen demnächst wiederkommen. Aber das wird nicht geschehen. Als die Werft in Insolvenz ging, stellte sich heraus, dass gar kein Geld mehr da war, wirklich gar keins. Die Beschäftigten blieben auf drei Monatsgehältern sitzen, bis heute haben sie das Geld nicht gesehen.

Dabei sah es lange so aus, als ob die Werft eine Zukunft hätte. Klar, die glorreichen Zeiten, als auf der Sietas-Werft, Leiharbeiter mitgezählt, über 2.000 Menschen arbeiteten, als die Auftragsbücher voll waren, als 40, 50 Schiffe im Jahr vom Stapel liefen, diese Zeiten sind endgültig vorbei, seit die Werft 2012 zum ersten Mal in Insolvenz ging.

Die Familie Sietas aus Neuenfelde, bis dahin unumschränkter Herrscher über die Werft, musste verkaufen, das Unternehmen, zu dem auch eine Wohnungsbaugesellschaft gehörte, wurde zerschlagen.

Und doch ging es mit dem Schiffbau weiter unter dem neuen russischen Eigentümer, als „Pella Sietas“-Werft, wie sie nun hieß. In kleinerer Besetzung zwar, mit nur noch 300 Arbeitern, aber so schlecht habe es gar nicht ausgesehen, sagt Rudolph. Die Werft hatte Aufträge für Spezialschiffe an Land gezogen: keine Containerschiffe, die Zeit war vorbei, aber: Baggerschiffe, Eisbrecher, Fähren.

An einer Wand in seinem Büro hängt ein Plan, auf dem der letzte Auftrag der Werft zu sehen ist: eine Doppelendfähre, neuester Stand der Technik, von der einen Seite hätten die Autos rauffahren können, von der anderen wieder runter.

Diese Fähre wurde gebaut, sie, oder besser gesagt eine Hälfte von ihr, steht am Ende der Halle, in der die Stahlplatten zurechtgeschnitten wurden. Sie steht da, so hoch wie die Halle, mit Planen abgedeckt. Es ist das Hinterteil, erkennbar an den Löchern für die Schiffsschrauben. Die vordere Hälfte und der Aufbau stehen auch auf dem Gelände, fast in Sichtweite – im Kopf lässt sich die Fähre also leicht zusammensetzen.

In Wirklichkeit wird das wohl nie geschehen. Die Reederei, die sie in Auftrag gab, trat von dem Geschäft zurück. Die Fähre sei zu schwer, außerdem werde sie nicht mehr gebraucht, die Nordsee­insel, auf der sie eingesetzt werden sollte, würde autofrei werden.

Sietas-Werft 1635 von Carsten Sietas gegründet, gehörte die älteste deutsche Werft über Jahrhunderte zum Obstbauerndorf Neuenfelde im Alten Land. In Hochzeiten arbeiteten hier 1.800 Menschen, mit Leiharbeitern dürfte die Zahl über 2.000 gelegen haben.

Arbeiter In den 70er Jahren warb auch die Sietas-Werft viele türkische Arbeiter an, die in Sichtweite der Werft in einer Barackensiedlung lebten, die in Neuenfelde „Klein Istanbul“ hieß. 2008 wurde die Siedlung abgerissen, heute befindet sich dort eine Obsttrocknungshalle.

Schiffe Während der Schifffahrtskrise von 2008 wendete sich die Werft vom Containerschiffbau ab und verlegte sich auf den Bau von Spezialschiffen, darunter „Aeolus“, das erste in Deutschland gebaute Installationsschiff für Offshore-Windkraftanlagen. Das Schiff konnte sich auf vier Hubbeinen selbst in die Höhe hieven.

Krise Nachdem der größte Gläubiger, die HSH Nordbank, bereits 2009 eine externe Geschäftsführung eingesetzt hatte, ging die Werft 2012 in Insolvenz. Das Unternehmen wurde zerschlagen, die Werft selbst wurde 2014 von der Pella Shipyard aus St. Petersburg übernommen und firmierte seitdem unter dem Namen Pella Sietas. Im Juli 2021 meldete auch der neue Eigentümer Insolvenz an, die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Insolvenzverschleppung.

Und anderswo Die meisten Schiffe werden derzeit in China, Südkorea und Japan gebaut. Bei den deutschen Werften sieht es dagegen nicht so gut aus. Nach einer aktuellen Betriebsrätebefragung im Auftrag der IG Metall sind in der Branche innerhalb eines Jahres rund 2.600 Arbeitsplätze verloren gegangen, auf den Werften arbeiteten mit 14.000 Beschäftigten so wenig wie nie. (wie)

Es war nur der letzte Stoß, aber er war symptomatisch: Die Geschäfte liefen nicht mehr gut, die Kunden zogen zurück, die Werft war am Ende hoch verschuldet. Das Problem, sagt Rudolph, sei gewesen: Mit den Aufträgen, die sie bekamen, konnten sie nie in Serie gehen­, die Schiffe, die sie bauten, waren alles Einzelanfertigungen. „Das lohnt sich dann irgendwann nicht mehr.“

Seit 1986 ist er bei der Werft, als Lehrling hat er damals angefangen, als Schiffszimmermann. Jetzt ist er einer der Letzten, die geblieben sind, denn Rudolph ist nicht nur der Yard Captain, er ist auch der Sicherheitsbeauftragte. Er sorgt dafür, dass die stillgelegte Werft in funktionsfähigem Zustand bleibt. „Nehmen Sie nur die Heizungen“, sagt Rudolph, „wenn Sie die ganz ausschalten und es ist kalt, platzen die Rohre.“ Oder die Elektrik: muss funk­tio­nieren, die Hallen müssten beleuchtet sein, die Tore auf- und zugehen.

Heino Rudolph sagt, er werde bleiben bis zum Schluss. Vielleicht findet sich ein Käufer für das Grundstück und das, was dann noch darauf steht, vielleicht kann jemand was damit anfangen. In der ehemaligen Belegschaft der Werft kursieren Gerüchte, dass vielleicht Airbus, dessen Werk nicht weit entfernt zwischen Neuenfelde und dem Nachbardorf Finkenwerder liegt, Interesse haben könnte – aber eine Bestätigung gibt es dafür nicht.

Bis es so weit ist, leert sich die Werft immer weiter. Bei einem Besuch einige Wochen später ist viel Verkehr, große Lastwagen rumpeln über das Kopfsteinpflaster der Zufahrtsstraße, ein Pkw mit niederländischem Kennzeichen parkt. „Heute ist viel los“, sagt der Pförtner. Auch er gehört zu denen, die drei Monate nicht bezahlt wurden, und fragt sich, warum in anderen Ländern der Staat die Werften unterstütze, in Deutschland aber nicht. „Am besten, man macht sich selbstständig“, sagt er.

Heino Rudolph ist gerade im Urlaub, dafür hat sich Georg Netuschil, der Betriebsratsvorsitzende, bereit erklärt, über das Gelände zu führen, um den Stand der Dinge zu zeigen. „Sehen Sie da hinten“, sagt er und zeigt auf die fahrbaren Kräne, die zwischen den Hallen stehen und bis zum Wasser vorfahren können, „die sind auch weniger geworden.“ Wer so einen Kran kauft? „Der wird verschrottet“, sagt Netuschul. „Das lohnt sich.“

Draußen vor der Kaimauer liegt das Flüsschen Este, total verschlickt. Der Schlick, der von der Elbe hereingespült wird, war für die Werft schon immer ein Problem, aber jetzt hat er überhandgenommen: das große Schwimmdock, das eine Barriere gebildet hatte, ist weg, es wurde von einer Flensburger Werft ersteigert und mit einem Schlepper über den Nord-Ostsee-Kanal an den neuen Bestimmungsort gebracht.

Das einzige Wahrzeichen auf dem Gelände, das auf jeden Fall bleiben soll und nicht versteigert wird, ist zugleich das größte: der auf zwei Beinen stehende Jucho-Portalkran, weithin sichtbar bis nach Hamburg-Blankenese auf der gegenüberliegenden Elbseite, ist so hoch, dass man, um oben auf den Querbalken zu kommen, mit einem Aufzug fahren muss, der innen durch ein Kranbein führt. Der Querbalken ist von innen begehbar, von oben ist die Aussicht sehr gut: übers Alte Land, über die Elbe.

„Hier könnte man ein Café aufmachen!“, sagt Georg Netuschil begeistert. „Aber wer soll das bezahlen?“

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