: Schengener Schleife um Kerneuropa
Morgen fallen zwischen den Staaten des Schengener Abkommens die Grenzen, doch in den Genuß des freien Reisens kommen längst nicht alle Bürger / Die Ausdehnung des Schengenraumes schafft zudem neue Grenzen ■ Aus Brüssel Alois Berger
Es war ein schöner Sonntag im Mai des Jahres 1985. Bundeskanzler Helmut Kohl und Staatspräsident François Mitterrand waren im deutsch-französischen Garten in Saarbrücken zusammengekommen und sprachen zum deutsch- französischen Volk. Und weil die Frühlingsgefühle so nach Aufbruch drängten, verkündeten die beiden Männer einen großen Schritt in die Zukunft. „Wir werden die Grenzen zwischen unseren Ländern abschaffen“, sagten sie und versprachen, es sofort zu tun. Bis zur Einlösung des Versprechens sollte es jedoch noch zehn Jahre dauern.
So ganz werden sie auch jetzt nicht abgeschafft. Auch künftig werden noch Kontrollen an den Übergängen möglich sein, wenn eine „besondere Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder nationalen Sicherheit“ vorliegt. Die Innenminister haben bereits in den Flüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien eine solche Bedrohung ausgemacht. Die Kontrollen gehen also am Montag weiter.
Als Mitterrand und Kohl im Handstreich die Schlagbäume absägen wollten, da brüteten die Innenchefs von Deutschland, Frankreich und den Beneluxstaaten schon seit Monaten über der Frage, wie trotzdem Kontrollen möglich wären. Als am 14. Juni 1985 im Luxemburger Weinstädtchen Schengen das Abkommen zustande kam, setzten die Innenminister als Öffnungsdatum den 1. Januar 92 fest. Bis dahin, so hofften sie, würden sie sich über die nötigen Sicherheitsmaßnahmen verständigt haben. Mit der Begründung, daß die europäische Freizügigkeit sonst nicht möglich sei, wurde das deutsche Asylrecht geschleift und auch in anderen Ländern die Verfassung den gestiegenen Sicherheitsanforderungen angepaßt. Nachdem sich ab 1990 Italien, Spanien, Portugal und Griechenland dem Schengener Abkommen angeschlossen hatten, wurden die Außengrenzen des Schengenraumes, wie der Länderverbund nun heißt, verschärft – aber die Binnengrenzen blieben zu. Computerfehler, hieß es. Der gemeinsame Fahndungscomputer in Straßburg, Herzstück der polizeilichen Zusammenarbeit, wollte nicht funktionieren.
Böse Zungen und die französische Zeitung Le Monde behaupteten, es habe sich um einen politischen Computervirus gehandelt. Denn der französische Innenminister Charles Pasqua, ein Mann, der nur Vertrauen in eine Polizei hat, die er selbst befehligt, hatte nie einen Hehl aus seiner Abneigung gegen die Grenzöffnung gemacht. Während aufrechte Verweigerer wie London, Kopenhagen und Dublin gar nicht erst in den Schengen-Club eingetreten waren, kam Pasqua mit immer neuen technischen Schwierigkeiten an. Bis dem deutschen Kanzler im letzten Dezember der Kragen platzte. Auf dem Gipfel der Staats- und Regierungschefs in Essen nahm er sich den von seiner Krankheit bereits gezeichneten Mitterrand zur Seite, erinnerte ihn an gemeinsame Erlebnisse und ließ ihn öffentlich versprechen, daß Schengen noch in diesem Frühjahr in Kraft treten werde. Aus der Sicht von Pasqua ist der morgige Sonntag noch nicht der Beginn der Freizügigkeit, sondern nur der Anfang einer dreimonatigen Probephase, in der die Personenkontrollen langsam abgebaut und das Computersystem ausprobiert werden soll. Der französische Europaminister Alain Lamassoure legte diese Woche nach. Nur an den Flughäfen könnten die Kontrollen wirklich wegfallen, meinte er. Wie das aussehen soll, ist allerdings noch völlig unklar. Auf den meisten europäischen Flughäfen müssen neue Durchgänge, Schleusen, Transiträume und Tunnels gebaut werden, um Schengen-Bürger mit Recht auf Freizügigkeit, Rest-EU-Bürger und Drittstaatler getrennt abfertigen zu können.
Die Grünen im Europaparlament lehnen Schengen als Mogelpackung ab. Die Europäischen Verträge haben die Freizügigkeit innerhalb der Gemeinschaft nicht nur versprochen, sie ist sogar Gesetz: Artikel 7a des Maastrichter Vertrages. Jede Kontrolle an den Binnengrenzen ist im Grunde ein Bruch europäischer Gesetze. Anstatt Druck auf Großbritannien oder Dänemark zu machen, ihre Grenzen vorschriftsmäßig abzubauen, wird mit dem Schengener Vertrag dieser Rechtsbruch sogar noch festgeschrieben. Künftig gibt es zwei Sorten von EU-Bürgern und zwei Sorten von Mitgliedsländern: Hallo, Kerneuropa.
Das hat Folgen: Wer aufgrund eines vagen Verdachtes ins Netz des Fahndungscomputers gerät, kann sich weder beim Europäischen Parlament beschweren noch vor dem Europäischen Gerichtshof sein Recht auf Einsicht einfordern. Schengen ist ein Vertrag zwischen einzelnen Ländern, die Europäischen Einrichtungen sind nicht zuständig. Auch die nationalen Gerichte sind häufig machtlos. Was sich beispielsweise ein belgischer Polizist über einen deutschen Staatsbürger zusammenreimt und in das SIS (Schengener Informationssystem) einfüttert, taucht auch auf den deutschen Bildschirmen auf. Aber kein deutsches Gericht würde sich damit befassen – und in Belgien ist Datenschutz weitgehend unbekannt.
„Schengen hat viele rechtliche und demokratische Defizite“, schimpft die Fraktionschefin der Europa-Grünen, Claudia Roth. Schon bei der Ausarbeitung seien weder die europäischen noch die nationalen Abgeordneten beteiligt worden. Wie zum Beispiel in Griechenland, das den Vertrag unterschrieben hat und nach der Beseitigung technischer Schwierigkeiten in den Schengen-Raum eintrat – dort habe es nicht einmal eine einzige Debatte im Parlament gegeben. „Und wir in Straßburg waren auf gnädige Informationen angewiesen, Einfluß hatten wir keinen.“ Am Sonntag werden zwischen einigen Ländern der Europäischen Union die Grenzen ein bißchen offener. Von der großen Vision eines grenzenlosen Europa ist nicht viel übriggeblieben. Wenn sich in den nächsten Jahren nach Österreich, das für den Anfang Beobachterstatus hat, auch Dänemark und vielleicht auch noch Schweden und Finnland anschließen, dann werden sogar neue Grenzen entstehen. Die skandinavischen Länder haben mit Norwegen und Island schon seit Jahren völlige Paßfreiheit. Jeder kann dort ohne Kontrolle von einem Land ins andere reisen. Ein Zustand, den sich die meisten europäischen Innenminister nicht einmal vorstellen können – und den sie auch nicht dulden werden. Bereits im letzten Jahr hat die Bundesregierung versucht, Dänemark zu drängen, auf den Fährschiffen nach Norwegen und Island Sonderkontrollen für nicht nordische aussehende Menschen einzuführen.
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