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Schauspiel HannoverKlimbim aus dem Erbauungsfundus

Die Ära des neuen Intendanten Lars-Ole Walburg begann durchmischt: Während die von Walburg selbst inszenierte Premiere mit Stücken von Heiner Müller und Ilja Ehrenburg wunderbares Theater zeigte, verbreitete der "Simplicissimus" gähnende Langeweile, und das Arbeitslosendrama "Da ist nichts leer" hinterließ kraft seines missglückten Settings Ratlosigkeit.

Versteinerter DDR-Alltag in Heiner Müllers "Wolokolamsker Chaussee" Bild: Katrin Ribbe

"Auf sehr kreative Art Steuergelder verschleudern" - so erklärt Lars-Ole Walburg, der neue Intendant des Schauspiels Hannover, Sinn und Zweck des Staatstheaters. Das zeugt von großem Selbstbewusstsein. Denn dieser Satz kann einem auch um die Ohren fliegen, wenn das runderneuerte Ensemble den selbst gesetzen Ansprüchen nicht gerecht wird. Zumal in Hannover, wo die Intendanten Wilfried Schulz und vor allem Ulrich Khuon die Latte ziemlich hoch gelegt haben.

Wohin die Reise geht, ist nach den ersten Arbeitsproben nicht ganz klar. Den Anfang machte eine Prozession, die vom Schauspielhaus in die Karstadt- und Kaufland-Ödnis der City führte. Dort wurde es dann gleich todernst. Walburg hatte zur Besichtigung eines Suizids gebeten. "Da ist nichts leer, alles voller Gewimmel - Autopsie einer Auslöschung" hieß das, nun ja, Stück der freien, dem Schauspiel assoziierten Theatergruppe "Kulturfiliale".

Es ging um Hendrik Pohl, der alles verloren hat: "seine Arbeit, seine Frau, seine Zuversicht - und den Glauben an die Hilfe des Staats". Er bezieht eine Bretterbude und hört auf zu essen. "In der selbst gewählten Isolationshaft mitten im Herzen der Stadt macht sich Hendrik Pohl bereit für seine eigene Auslöschung", drohte das Programmheft.

Vorlage war ein reales Drama aus dem Jahr 2007. Damals radelte ein Arbeitsloser aus Hannover in die Waldeinsamkeit des Solling, erklomm einen Jägerhochsitz und hungerte sich zu Tode. Bei dem mumifizierten Leichnam wurde ein Tagebuch gefunden. Es liegt heute bei der Staatsanwaltschaft und ist, sagen die wenigen, die es lesen durften, ein ergreifendes Dokument.

Dieses Adjektiv mochte einem nicht einfallen, als der Mime Philippe Goos nach fünf Tagen etwas blass, aber pumperlgesund die Leiter seiner Klause herabstieg, die in zwei Metern Höhe an der einzig greifbaren Baumkrone vertäut worden war. Dort hinauf und hinein hatte sich auch der Hannoveraner zu verfügen, sofern er bereit war, "die Anonymität des Zuschauers aufzuheben und sich mit der Figur auseinanderzusetzen".

Goos improvisierte mal mehr, häufig weniger inspiriert über Depression, Einsamkeit und Sinnverlust. Das Häuflein Passanten, das sich traute, tat gutwillig mit, hangelte sich aber eher ratlos zurück auf den Boden der Tatsachen. Den treffendsten Kommentar zu den gesammelten Banalitäten lieferte ein Arrangement aus Milch, Bananen und Traubenzucker, das der Spender mit einem Pappschild versehen hatte: "Mensch, Hendrik, iss doch mal was."

Schuld hatte nicht zuletzt das unglaubwürdige Setting. Der echte Lebensmüde war 58 Jahre alt und eine gescheiterte Vertreterexistenz. Er hatte mit allem abgeschlossen, vor allem mit seinen Mitmenschen. Goosens Hendrik Pohl ist 31, eine ennervierende Plaudertasche und Ingenieur für erneuerbare Energien. Das so einer heutzutage keinen Job findet, würde nicht mal Oskar Lafontaine behaupten. Noch kruder war der Ansatz der Kulturfilialisten, die fehlende dramatische Würze durch Klimbim aus dem christlichen Erbauungsfundus zu ersetzen - tägliche Andachten, Live-Gezimbel in Moll und ein abschließendes Abendmahl.

Drei Stunden nach der missglückten Auslöschung traf sich tout Hannover im Schauspielhaus zur ersten offiziellen Premiere. Und siehe da, hier zeigte sich, wie viel Potenzial in Walburgs Mannschaft steckt. Auf dem Programm stand ein Doppelpack aus Heiner Müllers "Wolokolamsker Chaussee" und Ilja Ehrenburgs "Das Leben der Autos". Angerichtet hatte der Chef persönlich. Die Inszenierung bot Rasanz, tolle Darsteller, ausgebufftes Handwerk, eine unterhaltsame Lektion in deutscher Geschichte samt jener Sorte Kapitalismuskritik, die auch Abonnenten der Steuerklasse eins goutieren. Ehrenburgs 1929 geschriebenes Prosastück ist ein hochkomischer Parforceritt durch die Abgründe von Öl- und Kautschukkriegen, Kartell- und Börsenwahn, Ausbeutung und Niedertracht. In Hannover wurde es von einem grotesk ausstaffierten Clownsquintett präsentiert, das Walburg zu einem anarchischen, aber jede Pointe genau treffenden Trupp geformt hatte. Die Schauspieler glänzten solo und als kompakter Sprechchor, sie sangen und purzelbaumten, als hätten sie ihr Handwerk bei Slapstick-König Hal Roach gelernt. Am Ende dröhnte Rammsteins "Amerika" aus den Boxen und das Auditorium klatschte sich die Hände wund.

Die Ovationen hatte schon Teil eins der Aufführung verdient. Heiner Müllers Texttrumm ist eine sprachgewaltige Studie menschlichen Geworfenseins im Allgemeinen und deutscher Befindlichkeiten im Besonderen, durchexerziert am Beispiel der DDR. Deren Geschichte beginnt, laut Müller, 1941 kurz vor Moskau in einem Waldstück an der Wolokolamsker Chaussee. Hier stoppte die rote Armee unter horrenden Verlusten den Vormarsch der Wehrmacht.

Robert Schweer hatte eine torfbeschichtete Brache ausgelegt, die Walburg zum Schlachtfeld zwischen Individuum und Gesellschaft werden ließ und in drei Szenen durchmaß: Die erste verhandelt das Frontdrama aus Hoffnung, Todesangst und Terror im Dienst der guten sowjetischen Sache, die zweite das Jahr 1953, als russische Panzer die blutig erkämpfte Utopie niederwalzen, die dritte spielt im Jahr 1968, diesseits wie jenseits der Mauer ein Markstein des Generationenkonflikts. Schweers Bühnenbild zauberte das realsozialistische Idyll per Fahrstuhl aus dem Boden, während die Darsteller den rapide versteinernden DDR-Alltag in virtuos choreografierten Bildern abmalten.

Das war zweifellos wunderbares Theater und eine stimmiges Exempel sinnleeren Herumhomunkelns. Das hatte man auch von der Dramatisierung des "Abentheuerlichen Simplicissimus Teutsch" erwartet, Grimmelshausens barockem Schelmenroman aus dem 30-jährigen Krieg, das Thomas Mann völlig zu recht "ein Erzählwerk von unwillkürlichster Großartigkeit" genannt hat. Gemessen daran waren die sichtbaren Mühen von Regisseur Florian Fiedler vertane Zeit - zäh und humorlos verrannen zweieinhalb Stunden, in denen das Personal mal an Stricken von der Decke baumelte, viel zu oft schlechte Songs vortrug und die übrige Zeit damit beschäftigt war, existenzialistisch grummelnd über ein Gräberfeld zu wanken.

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