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Schauplatz Was wäre der ostfriesische Krimi ohne die Leiche im Watt? Krimiautor Peter Gerdes lässt seinen Hauptkommissar Stahnke ermittelnIm Land der Grenzen

Ganz schön was los: Watt bei Friedrichskoog  Foto: Marcus Brandt/ dpa

von Peter Gerdes

Eine Leiche im Watt, denkt Hauptkommissar Stahnke. Na toll – schon wieder!

Wetten, gleich sagt es jemand?

Stahnke liest keine Krimis, er ist selber Kriminalist. Fände er im Krimi seine Arbeit falsch geschildert, würde er sich nur ärgern; andernfalls wäre es, als würde er Arbeit mit nach Hause nehmen.

Aber er weiß, was zwischen Buchdeckeln so los ist. Regionales Morden ist in, und die Küste – seine Küste! – ist drauf und dran, den deutschen Mittel- und Hochgebirgsregionen den Rang als Tatort Nummer eins abzujagen. Was allein in Ostfriesland in den letzten Jahren an Leichen produziert worden ist, spottet jeder Beschreibung.

Beispiel Langeoog: Dort gab es vor über zweihundert Jahren mal einen Mordfall, auf einer Sandbank, von der gar nicht klar ist, ob sie überhaupt noch zur Insel gehört. Der Täter war natürlich von Norderney. Seither nichts mehr. Aber in den Langeoog-Krimis – Dutzende! Wären all diese Toten echt, die Leute würden in hellen Scharen flüchten, statt als Touristen in ebensolchen Scharen hereinzufluten.

Ebbe und Flut, Ebbe und Blut. Ha!

„Hey, guck mal.“ Verdammt, da sind sie schon, die Touristen, denkt Stahnke. Eine kleine Vorhut nur, aber wo nur das kleinste Loch im Deich ist, da drängt die Flut erbarmungslos durch.

„Watt ’ne Leiche, woll?“, sagt der eine Touri zum anderen.

„Ist ja wie im Krimi“, kommt es zurück. „Watt ’n Mord!“

Wette gewonnen, denkt Stahnke. Und was hat er jetzt davon?

Der Regionalkrimi boomt seit Jahren, egal, wie oft dieser Trend schon für tot erklärt wurde. Welle folgt auf Welle und nichts verebbt. Im Gegenteil: Große Verlage, die ihre Krimi-Reihen schon aufgelöst hatten, steigen über die Regionalschiene wieder ein. So wird der Boom zum Dauerzustand.

Und die Autoren haben es gut! Relativ gut jedenfalls. Wo sie früher Krimiverlage mit der Lupe suchen mussten, gibt es diese jetzt im Dutzend. Allerdings werden auch die Autoren immer mehr. Wer so alles jetzt Krimis schreibt, das hat schon was von Goldrausch. Krimileser sind Vielleser, brauchen ständig neues Lesefutter. Und sie sind experimentierfreudiger als die Leser anderer Genres, die gerne zu dem greifen, was die Feuilletons schon vorgekaut haben. Krimileser gehen Wagnisse ein, probieren gerne selber. Was kann schon passieren? Ein Fehlgriff kostet nicht mehr als ein Taschenbuch.

„Kennst du den?“, fragt der eine Touri. „Den Toten da im Watt?“

„Nee, der sacht mir nix“, erwidert der andere.

„Watt ’n Wunder! Natürlich sacht der nix mehr, der is’ja auch tot!“

Witzig, denkt Stahnke, sehr witzig. Wieso denken die Leute eigentlich neuerdings, regional plus kriminell wäre gleich lustig? Diesen Ruf hat der Regionalkrimi bei vielen weg. Er sei platt, heißt es, niveauarm, eben „Regionalliga“, also viert- bzw. unterklassig im Vergleich zu den „echten“, den regional ungebundenen Krimis. Und es stimmt ja, oft geben Leser Kommentare ab wie: „Ach, wenn ich solche Krimis lese, fühle ich mich wie im Urlaub! Ich erkenne die Orte wieder, jedes Haus, die Stellen am Strand …“ Na bravo. Und was ist mit dem, was ein guter Unterhaltungstext eigentlich auch leisten soll? Handlung und „Tiefe“, also potenziell aufklärerische Widerspiegelung und Durchdringung von Phänomenen regionaler Zeitgeschichte in erzählerisch-unterhaltsamer Form? Hä? Pustekuchen.

„Guck mal“, sagt Touri eins, „die Leiche hat ’nen Overall an. Mit hinten was drauf.“

„Ist wohl ein Propeller“, sagt Touri zwei. „Ist der von ’ner Werft?“

„Oder das ist ein Windrad. Dann hat der vielleicht für eine Offshore-Firma gearbeitet.“

„Ja, is denn dat ’n Grund, einen gleich umzubringen?“

Über angebliche Inselmorde Wären all diese Toten echt, die Leute würden in hellen Scharen flüchten, statt als Touristen in ebensolchen Scharen hereinzufluten

Jetzt lachen die beiden, denkt Stahnke. Dabei ist das doch genau der Punkt! Wenn schon regionale Krimis, dann doch bitte mit Fällen, Interessen und Motiven, die auch wirklich mit Land und Leuten zu tun haben – und die es so vielleicht nur hier gibt.

Zum Beispiel Windenergie: Die Fronten im Streit darum verlaufen ganz anders als gewohnt, daraus lässt sich Spannung ebenso ziehen wie Erkenntnis. Die Grünen plötzlich dagegen, wegen Verspargelung der Landschaft. Die Rechten plötzlich dafür, denn es gibt viel Geld zu verdienen. Die SPD wie immer gespalten, am Ende aber stets willfährig, wegen Arbeitsplätzen. Sind das keine Gründe zum Morden?

Zum Beispiel Schiffbau: Die Werft im Binnenland, die monströse kreuzfahrende Hotelburgen baut und dafür einen ganzen Fluss mordet, Umweltschützer verhöhnt, die Deichsicherheit negiert, Leiharbeiter wie Dreck behandelt, Mitbestimmung aushebelt und dann noch nach Luxemburg ausflaggt – wie viele Motive will man denn noch?!

Und es gibt noch so viel mehr. Die Wohnsituation von Beschäftigten auf den Ostfriesischen Inseln etwa; da ist Langeoog fast wie Sylt. Fähren voller übermüdeter Pendler, die sich keine Unterkunft auf der Insel leisten können, auf der sie arbeiten. Oder regionale Varianten gesamtgesellschaftlicher Probleme. Denn Nazis und Islamisten gibt es auch hier. Nur sind die Verhältnisse immer ostfriesisch, obwohl global verflochten.

Schwierig? Tja, denkt Stahnke, wer hat denn behauptet, Regionalkrimi sei etwas für Anfänger?

„Guck mal, jetzt is der Doc fertig“, kommentiert Touri eins das Geschehen im Watt.

Stahnke schreckt hoch. Tatsächlich, Gerichtsmediziner Dr. Mergner streift sich die Handschuhe ab. Wann ist denn der auf der Bildfläche erschienen? Der Hauptkommissar erkennt, dass er schon eine ganze Weile für sich hin sinniert hat, breitbeinig auf der Deichkrone, die Hände in den Trenchcoat-Taschen. Gut, dass seine Leute von ihm nichts anderes erwarten! Trotzdem, solches Verhalten ist schon grenzwertig.

Apropos Grenze.

Die Berge und die Küste, denkt Stahnke, sind beides grenzwertige Regionen. Hier sind die Menschen schon früher an ihre Grenzen gestoßen – und haben sie doch zu überwinden gesucht, Schritt für Schritt. Sei es wegen des Lebensunterhalts, als Bergbauern oder Fischer, oder schlicht um der Herausforderung willen. Hier wie dort ging es immer schnell mal ums Ganze. Langweilig wurde das Leben nie. Bloß manchmal kurz.

Ist das vielleicht die Grundsituation des Krimis? Die Grenze, die man überwindet oder daran scheitert? Die Extremsituation, die ungeahnte Charakterzüge und unerwartetes Verhalten zu Tage fördert? Das könnte erklären, warum Ostfriesland so vielen Autoren und noch viel mehr Lesern einen Krimi wert ist, oder ganze Reihen davon. Denn Grenzen gibt es hier ja mehrere: Die Grenze zum Nachbarn Holland, die Traditions-Grenze zwischen gestern und morgen, die nasse Grenze zwischen Land und Meer. Ganz zu schweigen von der zwischen Inseln und Festland.

Neben Stahnke räuspert sich jemand. Er fährt herum und will schon die Touris anschnauzen, die ihm offenbar noch näher auf den Pelz gerückt sind, sieht aber, dass es sich um seinen Kollegen Kramer handelt. „Was haben wir denn?“, fragt der Hauptkommissar, ganz so, als hätte er schon lange auf einen Zwischenbericht gewartet.

„Der Tote heißt Hinrich Kromminga, zweiundvierzig, Decksmann auf einer Inselfähre. Todesursache ist Ertrinken, sagt Mergner. Allerdings hat der Tote eine deutliche Schwellung am Kinn und eine Bisswunde in der Zunge, selbst zugefügt. Beides prämortal.“

„Der Mann ist also nach einer Schlägerei über Bord gegangen“, schlussfolgert Stahnke.

Kramer nickt. „Ich habe schon mit seiner Reederei Kontakt aufgenommen. Angeblich hat es auf der letzten Überfahrt Streit gegeben.“

Peter Gerdes

60, studierte Germanistik und Anglistik, arbeitete als Journalist und Lehrer. Schreibt seit 1995 Krimis und betätigt sich als Herausgeber. Seit 1999 Leiter des Festivals „Ostfriesische Krimitage“. Gerdes betreibt mit seiner Frau Heike eine Krimi-Buchhandlung mit Café in Leer. Neuester Krimi: „Ostfriesische Verhältnisse“.

„Lass mich raten“, unterbricht Stahnke. „Dieser Kromminga hat sich mit übermüdeten Insel-Kellnern angelegt, die sich drüben keine Zimmer leisten können und deshalb pendeln müssen?“

Kramer schüttelt den Kopf.

„Dann hat er sich für Offshore-Windkraftanlagen ausgesprochen, während radikale Umweltschützer an Bord waren?“

„Nö.“

„Hatte er ein Verhältnis mit der Frau des Kapitäns?“ Ein Verzweiflungsschuss, der denn auch prompt daneben geht.

Kramer grinst. „Es waren Kegelclubs an Bord, zwei aus Wattenscheid und einer aus Wanne-Eickel. Die haben nach einem Besuch auf der Kreuzfahrt-Werft noch einen Insel-Trip eingelegt und dabei kräftig gebechert. Als sie dann lauthals von der Werft und den Schiffen geschwärmt haben, ist Kromminga der Kragen geplatzt, und er hat denen mal erzählt, dass für diese Pötte die ganze Ems mitsamt der Küste versaut wird. Tja, und das wollte dann einer nicht so gerne hören.“

Okay, denkt Stahnke, das nenne ich einen Regionalkrimi! Schauplatz, Personal, Motiv­lage, Handlungsverlauf – realistischer und küstentypischer geht es kaum! Nicht wahr, meine Herren Touristen?

Er dreht sich zu den beiden vorwitzigen Touris um. Aber die sind schon weg.

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