Schaubühne: Die Ahnen der Fridays
Vor 50 Jahren verhinderten Menschen von beidseits des Rheins den Bau eines Bleichemiewerks im elsässischen Marckolsheim. Heute fast vergessen, markiert die erfolgreiche Bauplatzbesetzung auch den Übergang von der alten Naturschutz- zur politischen Umweltbewegung.
Von Gastautor Axel Mayer
Von einem kleinen Dorf am Rhein ging vor 50 Jahren ein wichtiger Impuls für die globale Umweltbewegung aus: Am 20. September 1974 besetzten Menschen von beiderseits des Rheins den Bauplatz eines geplanten Bleiwerks im elsässischen Marckolsheim am Fuße des Kaiserstuhls. Nach Vorbild der indigenen Urbevölkerung Nordamerikas wurde auf dem Platz ein hölzernes Rundhaus, das erste Freundschaftshaus am Rhein, errichtet. Dort und auf Demos fanden sich Frauen und Männer, Winzer und Freaks, Junge und Alte, Linke und Wertkonservative. Es war die weltweit erste grenzüberschreitend organisierte und erfolgreiche Bauplatzbesetzung, auch wenn sie immer ein wenig im Schatten des großen Konflikts um das Atomkraftwerk Whyl steht.
Den Hintergrund des Umweltkonflikts im Spätsommer und Winter 1974/75 würde man heute als klassisches Beispiel der Globalisierung deuten. Ein deutscher Konzern, die CWM (Chemische Werke München), machte sich die Grenzlage zunutze und wollte in Frankreich direkt am Rhein ein extrem umweltbelastendes Bleichemiewerk bauen. Vom toxischen Bleistaub betroffen wäre die Bevölkerung auf beiden Rheinseiten gewesen. Auch damals schon gab es viele Versuche, die Menschen grenzüberschreitend gegeneinander auszuspielen. Während heute die Konflikte häufig zwischen „Tarn- und Vorfeldorganisationen“ der Konzerne und der Umweltbewegung ausgetragen werden, gab es damals noch den direkten Konflikt zwischen den CWM, den Behörden und den Bürgerinitiativen.
Die Baupläne waren 1973 bekannt geworden, einer politisch brisanten Zeit am Oberrhein. Vorangegangen waren der umstrittene Baubeginn des französischen AKW Fessenheim und erste massive Bürgerproteste gegen die Pläne des Energieversorgers Badenwerk, erst in Breisach und später in Wyhl ein Atomkraftwerk zu bauen.
Eine Zeit offener Umweltzerstörung
Gründe, gegen die Bleifabrik des CWM-Chefs und -Hauptaktionärs Christian Rosenthal anzugehen, gab es viele. Es gab vor 50 Jahren noch Formen der Umweltvergiftung, die heute, zumindest in Zentraleuropa, unvorstellbar sind. Es war die Zeit der „guten, alten, offenen“ und vor allem sichtbaren Umweltzerstörung und Umweltvergiftung. Flüsse waren stinkende Kloaken, Kinder in der Umgebung von Verbrennungsanlagen litten an Pseudokrupp, und die Schweiz versenkte ihren Atommüll im Atlantik. Es war eine Zeit unkritischer Technikbesoffenheit mit DDT, Asbest, Atomkraft und FCKW.
Über neun Tonnen Blei hätte die neue Fabrik in Marckolsheim jährlich über den Schornstein abgegeben, und das in einer Weinbauregion. Bleivergiftung führt zu verminderter Intelligenz, irreparablen Hirnschäden, Krämpfen, Fehlgeburten und Krebs. Schnell wurde am Oberrhein auch bekannt, dass in der Umgebung vergleichbarer Werke in Deutschland die Kühe auf der Weide gelegentlich tot umgefallen waren. Ursache: Bleivergiftung. Die Wochenzeitung „Zeit“ berichtete etwa im Mai 1972 unter dem Titel „An der Unterweser grassiert die Angst“ über ein „Massensterben von Rindern“ in der Nähe von Nordenham durch Blei.
Erste grenzüberschreitende Allianz dieser Art
Gegen Bleichemie und Atomindustrie schlossen sich im August 1974 deutsche und französische Umweltschützende zusammen und gründeten das Internationale Komitee der 21 badisch-elsässischen Bürgerinitiativen. Einen ähnlichen grenzüberschreitenden Zusammenschluss dieser Art hatte es nach den Wunden des Ersten und Zweiten Weltkrieges bis dahin nicht gegeben. Erstaunliches tat sich fast 30 Jahre nach Kriegsende in der ländlichen, konservativen Region beiderseits des Rheins: Über 3.000 Menschen aus beiden Ländern kamen beim Sternmarsch zum geplanten Standort in Wyhl zusammen, über 4.000 Menschen beim Demonstrationszug unter Glockengeläute gegen das Bleichemiewerk in Marckolsheim. Fortschritt wurde kritisch hinterfragt und menschengerechte Technik eingefordert.
Dennoch begannen Mitte September 1974 die bauvorbereitenden Maßnahmen auf dem Marckolsheimer Baugelände, und ein Zaun sollte errichtet werden. Dem kam die Bauplatzbesetzung am 20. September zuvor.
Bauplatzbesetzung, das schreibt sich mit 50 Jahren Abstand so einfach. Doch diese erste, von einer breiten Bevölkerungsschicht getragene Besetzung in Marckolsheim, das war zuallererst Matsch, Schnee, knöcheltiefer Schlamm in einem nassen, kalten Winter. Das war der Rücktritt des Marckolsheimer Gemeinderats aus Protest gegen die Fabrik und eine mehrfach besetzte Pontonbrücke über den Rhein nach Sasbach. Das waren Badisch, Elsässisch, Hochdeutsch und Französisch sprechende Menschen und Sprachprobleme zwischen Deutschen, Franzosen und Dialektsprechenden. Ich erinnere mich an viele Gesichter, Reden, Streit, Liebesbeziehungen, Gespräche und Lieder am Lagerfeuer, Demos, Brückenbesetzungen, Flugblätter, Liederbücher und Plakate.
Frauen wie die französische Politikerin und Umweltschützerin Solange Fernex oder die badischen Umweltaktivistinnen Lore Haag und Annemarie Sacherer spielten auch als Rednerinnen und Organisatorinnen in Marckolsheim und Wyhl im aktiven Widerstand eine wichtige Rolle. Eine Rolle, die nicht unbedingt dem Geschlechterverständnis der 1970er-Jahre in den konservativen Regionen auf beiden Seiten des Rheins entsprach. Das Elsass erlebte eine Blüte (und leider auch einen Schwanengesang) elsässisch-alemannischer Regionalkultur.
Zahlreiche elsässische, badische und Schweizer Künstlerinnen und Künstler sprachen von einer „Alemannischen Internationale“. Sie traten bei Demos, Aktionen und später in Wyhl auch im Rahmen des Programms der Volkshochschule Wyhler Wald auf. Schallplatten und Liederbücher entstanden und es wurde viel gesungen bei Demos und auf den besetzten Plätzen.
Am 25. Februar 1975 kam dann der Erfolg. Die französische Regierung untersagt der deutschen Firma CWM offiziell die Errichtung der Bleifabrik in Marckolsheim. Mit dem Wissen, dass illegale Bauplatzbesetzungen auch zu Erfolgen führen können, wendet sich der Protest gegen das wenige Kilometer entfernte AKW-Bauprojekt im Wyhler Wald auf der anderen Rheinseite. Bauplatzbesetzungen dort, im schweizerischen Kaiseraugst sowie im französischen Gerstheim und Heiteren sollten folgen.
Der Begriff Heimat wurde von Klischees befreit
Die Proteste und erfolgreichen Bauplatzbesetzungen fielen in eine Hochzeit der europäischen Regionalbewegungen. Im Baskenland und in Katalonien gärte es und auf dem Larzac-Plateau in Südfrankreich gab es erfolgreiche und unkonventionelle Proteste gegen einen geplanten Truppenübungsplatz. Der Begriff Heimat wurde entstaubt und erstmals nach dem Krieg von tümelnden Klischees befreit.
Auf den besetzten Plätzen in Wyhl, Markolsheim und Kaiseraugst wurde hauptsächlich Dialekt gesprochen und es wurde deutlich: Dialekt ist immer auch Sand im Getriebe der globalen Megamaschine. Dialekte stören die Verwandlung der vielfältigen Welt in eine große, einheitlich genormte Fabrik, eine Agrar-Fabrik, eine Fabrik-Fabrik, eine Konsum-Fabrik und eine Wohn-Fabrik, in der zunehmend übersättigte Menschen immer unzufriedener werden.
Der Marckolsheim-Protest war nicht nur das erste militante „Nein“ zur Luftvergiftung. Er war immer auch Protest für Vielfalt, Demokratie und für ein grenzenloses Europa der Menschen und Regionen. Keiner hat diesen Traum vom grenzenlosen Europa damals so deutlich ausgedrückt wie der elsässische Liedermacher François Brumpt in seinem Dreyeckland-Lied „Mir keije mol d Gränze über de Hüfe und danze drum erum / Wir werfen einmal die Grenzen über den Haufen und tanzen drumherum“. Ohne die massive Einbindung und den positiven Einfluss der Kultur in den Protest wäre der Erfolg nicht möglich gewesen.
Die Erfahrungen und der Erfolg der illegalen Besetzung in Marckolsheim waren wichtig für den erfolgreichen Protest gegen die geplanten Atomkraftwerke in Wyhl, Kaiseraugst und Gerstheim. Und auch die badischen Ackerbesetzenden in Buggingen, die zwei Jahrzehnte später gegen Genmais protestierten, beriefen sich noch darauf. In Marckolsheim wurden aus konservativen Naturschutzverbänden politische Umweltorganisationen und der religionsähnliche Wachstumsglaube der 1960er-Jahre bekam erste Risse.
In diesen frühen ökologischen Kämpfen am Oberrhein liegen wichtige Wurzeln des Umweltverbände BUND und Alsace Nature und der Partei Die Grünen. Und in diesen Kämpfen liegen auch die Wurzeln der heutigen Klimaschutzbewegung. Auf den Tag genau 50 Jahre nach der Bauplatzbesetzung findet der nächste globale Klimastreik statt.
Was bis heute bleibt, ist ein Erfolg. Ein Erfolg für Mensch und Umwelt, denen jährlich viele Tonnen giftiges Blei erspart geblieben sind. Erstaunlicherweise sogar ein nachträglicher Erfolg für die Firma CWM, denn die Fabrik sollte Stabilisatoren für PVC und andere Kunststoffe herstellen, Produkte, die heute für PVC nicht mehr gebraucht werden. Wie so häufig hatte die Umweltbewegung auch einen ökonomischen Flop verhindert. Wir waren keine „Verhinderer“, sondern haben geholfen, den Fortschritt menschengerecht zu gestalten. Die Umweltbewegung wird heute für das gelobt, was sie in der Vergangenheit getan und erreicht hat und sie wird dafür kritisiert, was sie aktuell fordert und durchsetzen will.
Es gibt noch viel zu tun
Es gibt viele Gründe, sich über vergangene Erfolge zu freuen, und immer noch unendlich viel zu tun. Wenn heute in Kerneuropa in Bächen und Seen wieder gebadet werden kann, wenn die Luft sauberer geworden ist, wenn Strom aus Wind und Sonne um ein Vielfaches günstiger ist als Strom aus AKW, dann sind diese Erfolge nicht vom Himmel gefallen, sondern sie wurden gegen Lobbyisten, Konzerne und marktradikale Seilschaften in mühsamen Konflikten erkämpft.
Im großen, globalen Krieg des Menschen gegen die Natur und damit gegen uns selbst wurden in Marckolsheim die Zerstörungsprozesse entschleunigt und kleine, wichtige Teilerfolge erzielt. Die Bauplatzbesetzung war ein wichtiger Impuls für die erwachende Umweltbewegung und zeigte: Es lohnt, sich zu engagieren.
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