: Saufen als eindeutiges Kulturgut
Ein singender und dichtender Stadtbilderklärer auf Zechtour an der Ruhr ■ Von Thomas Meiser
Banana-Joe ist nix zu trinken. Deswegen ist das gelbe Stangeneis an dieser Trinkhalle nicht angesagt. „Und Schlüpferstürmer is nich da“, sagt Elvira Igrec achselzuckend und verfällt in Schweigen. Die alte Trafikantin ist auch ohne Schlüpferstürmer sichtlich von den Socken. Schließlich umzingelt gerade unvermittelt ein knappes Dutzend sensationsdurstiger Menschen ihre kleine Bude. Sie wollen hier zur Vergnügungstour starten: Kneipen und Trinkhallen des weltberühmten Stadtteils Duisburg- Hochfeld stehen heute abend auf dem touristischen Besuchsprogramm. Saufen als Kulturgut! Da will sich der zuständige Fremdenführer natürlich nicht lumpen lassen. „Die Elvira rückt jetzt erst mal für jeden 'n Pinneken Wodka raus“, sagt Fremdenführer Uedingslohmann und gießt sich gleich mehrere der niedlichen kleinen Flaschen in den Schlund. Ehrfürchtig bestaunen die Touristen diese erste stadtteiltypische Attraktion. Aber noch will so recht keiner mittun. Die Fähigkeit zur Stadtbilderklärung verdankt Klaus Uedingslohmann dem Umstand, daß er eine Straße weiter wohnt. Zudem ist er ein recht berühmter Musikant, vor Jahren schon besang er hymnisch die schweigsame Trinkhallenbesitzerin: „Elvira anne Ecke, da wo ich Kippen kauf, hat auch so ihre Tage, da isse schräge drauf.“ Weil die Befindlichkeit der alten Dame auch heute etwas zu wünschen übrig läßt, lotst der Fremdenführer seine noch mäßig durstigen Schäflein jetzt in eine Tränke namens „Rauchfang“.
„Sachtma wat“, sagt er dort, breitbeinig an der Theke sich fläzend. „Ein Pils“, antwortet, nicht faul, ein Tourist endlich das, was von ihm erwartet wird. Nach diesem ersten gelungenen Gespräch drängt sich eine Schmalspur-Version von „We are The Champions“ in den akustischen Vordergrund. Einen Rauchfang hat die Pinte gleichen Namens auch im Hinterstüblein nicht. Hier wie im Tresenraum wird der überschüssige Rauch der Zigaretten vom Gilb verspeist, der in den Gardinen sitzt. Vier Frührentner sind von den Kieztouristen, die hier Originale spähen wollen, sichtlich unbeeindruckt. Die alten Kümmerlinge wenden sich mürrisch ab. Aber Wirt Willi brüstet sich vor dem unerwarteten Publikum: „Ich hab noch nie die Polizei hier gehabt“, erklärt er stolz, „nich, weil ich so groß und stark bin, sondern weil meine Gäste so ruhig sind.“ Leider würden es von Jahr zu Jahr weniger, legt er dar, „die ganze Arbeitslosigkeit, keiner hat mehr Kohle auf Tasche und der ganze Dreck“. Dabei gilt Willis Schankbetrieb, schwer gemütlich durch viel rustikale Eiche, in der Hochfelder Absturzhierarchie als edelste Adresse, wie der Fremdenführer zu rühmen weiß. Die Geschmackssicherheit des klagenden Gastronomen erweist sich schon beim ersten Augenrollen: Hinter dem Tresen ist eine Magnumflasche Asbach mit einem Rudel Tütensalamis zu einem Stilleben vernagelt. Über dem Zierrat wachen die Argusaugen einer kindskopfgroßen, penetrant grinsenden Schokolinse.
Der Uedingslohmann redet lustig daher. Der heutige Zug durch die Gemeinde wankt nämlich, folgt man seinen Worten, in den Fußstapfen einer großen Tradition. Einst seien viele junge Menschen, die hier ihre Heimat haben, regelmäßig Freitagabends, schamlos Alkohol mißbrauchend, die Hochfelder Piste entlanggeschlittert, um dann bis morgens früh in einem stadtbekannten Tanzlokal zu versumpfen. „Laß zahlen“, sagt der Kiezkundige drei Pils später und führt die ihm Anvertrauten zur Abwechslung in ein muselmanisches Lokal. Dessen Name ist „Sankt Johann“. Doch nicht einmal der Evangelist sitzt auf dem Arme-Sünder-Bänklein am Tresenende, das hier, Gott allein weiß warum, „Rentner- und Lügenbank“ heißt. Dafür hat die Gaststätte eine Jukebox, mit deren Hilfe der Fremdenführer wieder unauffällig die geistige Führung übernehmen kann.
„Hasse den Zebra-Twist in die Kiste?“ fragt der Uedingslohmann, „auch 'n Pils und Wodka, na klar.“ Aus der scheinbar arglosen Frage entwickelt der Stadtbilderklärer spontan einen kleinen Vortrag, demzufolge er eigenmündig „eine völlig verrockte Version“ des Meidericher Schlachtengesanges intoniert und in Rillen gezwängt habe.
„Zebrastreifen weiß und blau, ein jeder weiß genau, dat is der MSV“ lautet der eingängige Text, der an Heimspiel-Samstagen in jedem der über 30 Schankbetriebe dieses völlig unterschätzten Stadtteiles die Stimmung hebt. Auch über den Stadtteil selbst hat sich der singende Fremdenführer lyrisch verbreitet: „Hochfeld riecht nach Gyros, Schweiß und Rauch, da wohnen Menschen mit Gefühlen, und die meisten hab ich auch.“ Tatsächlich scheint der Musikus über ein unbezwingbares Durstgefühl zu verfügen. Wieder auf der Meile zur nächsten pittoresken Trinkhalle. „Eine Runde Schlüpferstürmer“, ordert der Uedingslohmann. Aber bei Trinkhallenmister Bayram Döngü muß sich der Hochfelder Getränkekenner mit einem sicher nicht minder verwegenen Alkoholikum namens „Busengrapschers Brombeerlikör“ zufriedengeben. Von der Poesie der Likörbezeichnung merklich inspiriert, geleitet der Brombeerfreund die bestürzte Reisegruppe nun zum Hort der Weissagung und der Dichtkunst – in eine griechische Kaschemme namens „Apollo“. „Ist doch ganz nett hier, ideal für den totalen Absturz“, werden die Kurzstreckenreisenden beschwichtigt. Trotzdem werfen die Touristen einander furchtsame Blicke zu, Übles scheint zu dräuen. Ein mäßig elegant gewandeter Mensch erhebt sich vom Barhocker und kommt drohend, aber langsam auf die verirrten Reisenden zu. Aufs rechte Unterlid ist ihm eine Träne tätowiert, auch seine beiden Fäste triefen von eingespritzter Tinte. „Ihr seid wohl ganz Clevere, wa?“ eröffnet der Mann das Gespräch und wartet lauernd ab. Doch der Musikus Uedingslohmann versteht es, die Situation zu entkrampfen. Laut gröhlend stimmt er plötzlich ein griechisches Trinklied an. Ein ums andere Mal. Oft, sehr oft also. Währenddessen können sich die ihm anvertrauten Erlebnisreisenden unauffällig vom Acker machen. Einer nach dem anderen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen