Sanssouci: Vorschlag
■ „edel-Jazz special III: Schöner alter Krach aus dem neuen Osten“
Was hat die Sonatenhauptsatzform mit Jazz zu tun? Was überhaupt ist die Sonatenhauptsatzform? Was war der Jazz? Alfons M. Dauer, der emeritierte Afroamerikanistik-Professor aus Graz, wußte jüngst noch die Antwort: Der Jazz ist eine »stigmatisierte Musik«. Der Jazz, so Dauer, gehöre zur »Zweiten Musikwelt Nordamerikas« — als verdrängte, nichtrepräsentative Musik der nichtherrschenden Schichten.
Stigmatisiert werde er durch die Vokabel »Jazz«. Diese wiederum ist, wenn sie denn überhaupt etwas bedeuten soll, mit Ausdrücken aus der Fäkaliensprache besetzt. What a fuck is this? hat noch eine Steigerung: What a jazz is this? Jazzmusik ist Scheißmusik. Womit wir beim Thema wären.
Denn daß das so ist, wußte man im neuen Osten schon lange. Man brauchte ja nur hinzuhören und zu sehen. Nichts als Krach und verkrachte Existenzen. Aber schön war die Zeit doch irgendwie, damals im Osten. Sogar Arbeiterjugendliche sollen zuhauf auf den heimatlichen Jazzkonzerten gesichtet worden sein. Mangels Alternativen, sagen die Zyniker. Ein Beleg für die kulturrevolutionäre Potenz dieser Musik, wollen die Neider wissen. Doch allzuschnell zerrann der Stoff, aus dem diese Legenden sind, zwischen den Mühlen der Geschichte.
Die Krachmacher aus dem Osten sahen sich über Nacht dem rauhen Businesswind aus West ausgesetzt, der nicht nur ihr Publikum förmlich aus den Konzerten fegte. Man fand sich in der Neuzeit wieder, etwas benommen und – stigmatisiert. Von der Ersten Welt war man in die Zweite abgestiegen. Hier ist Krach lediglich Krach und Jazz eine ganz andere Form von Scheiße. Auch beschissen bezahlt, um nur mal eben eine der Neuerungen zu nennen. Da mag man sich von einem Auftritt zum anderen retten, in festen Formationen gibt es kein Überleben mehr. Das Musikerleben spielt sich fortan in subventionierten Projekten ab – wenn man denn gut dran ist. Und eigentlich wollte man doch immer nur Musik machen, schöne Musik, improvisierte Musik, Krach. Der ambitionierten „edel-Jazz“-Reihe ist es zu verdanken, wenn sich heute abend zwanzig der einst renommierten Ost- Jazzer zur musikalischen Hausbesetzung treffen. Mit dem Vokabular der Ersten Musikwelt wird bedeutet, was einen in der Zweiten erwartet: Sonatenhauptsatzform und tutti, sprich: Krach in allen Räumen. What a jazz is this? »Geschichte in Klängen und die Gegenwart als Krach« – so alt, wie der Osten neu sei. Ein mutiger und spannender Überraschungsact bei der inzwischen profilierten edel-Jazz-Konzertreihe, ausnahmsweise am Samstag abend (sonst mittwochs). Christian Broecking
„edel-Jazz special III“ im Kulturhaus „Peter Edel“, Berliner Allee 125, Weißensee, 21 Uhr
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen