Sanssouci: Vorschlag
■ Hundert Jahre Kino in Berlin zu Fuß mit „Stattreisen“
Neunzig Scheinwerfer beleuchten den Innenraum des Kinos, rechts und links der Bühne befinden sich Beleuchtungskörper mit Kristallglasbehängen, in denen zu Beginn der Vorstellung blaues Licht wie eine Fontäne aufschießt. Auf dem Orchesterpodium tanzt eine Revue-Truppe. Nein, keine aktuelle Berichterstattung. Leider. In den heutigen Kinosälen ist – ganz im Gegensatz zu den zwanziger Jahren – dröge Zweidimensionalität angesagt. Das Medium Film lockt auch ohne zusätzliche Anreize. Oder doch nicht? Im vergangenen Jahr wurde im Zoo-Palast eine Laser-Show installiert. Und die riesigen Kinopaläste der Weimarer Republik – damals gab es in Berlin nicht weniger als 47 Filmtheater mit mehr als tausend Plätzen – erleben derzeit in Form der Multiplex-Kinos mit mehreren tausend Plätzen eine Renaissance. In einer Omega-Bewegung scheint die Kinogeschichte wieder ihrem Ausgangspunkt entgegenzulaufen; der multimediale Vergnügungspalast des nächsten Jahrhunderts könnte jenem der zwanziger Jahre wieder verblüffend gleichen.
Dieser Art sind die Bezüge, die sich auf dem von „Stattreisen“ organisierten kinogeschichtlichen Stadtrundgang herstellen lassen. Gourmets auf der Suche nach bekannten Drehorten sitzen im falschen Film, wer sich aber für eine Verbindung von Kino-, Sozial- und Stadtgeschichte interessiert, wird Michael Bienerts Ausführungen mit Spannung folgen. Er führt die Teilnehmer von den großen Lichtspielhäusern rund um die Gedächtniskirche, auf den Ruinen der legendären Filmpaläste der Vorkriegszeiten errichtet, bis zu den baulichen Überresten der billigen Kintopps in der Münzstraße. Zu Fuß, mit S- und U-Bahn geht es quer durch Berlin, denn Kinogeschichte ist hier allgegenwärtig.
„Der Film belagert Berlin, Überläufer strömen ihm in Massen entgegen, und die völlige Kapitulation der Stadt ist nicht mehr weit“, notierte Alfred Polgar in den zwanziger Jahren. „Man könnte sagen, ein einzig Filmband umschlingt alle Völker Berlins.“ Die Millionen sind vom Medium Film noch immer umschlungen, aber Berlin ist längst keine Filmstadt mehr. Es bedarf zur Spurensicherung schon eines Kinokriminalisten wie Bienert. Im „Münz-Theater“ etwa, in der Nähe des Alexanderplatzes, muß es gewesen sein, wo Döblins Franz Biberkopf sich erotische Filme ansah. Im „Lichtspiel Mozartsaal“ am Nollendorfplatz hingegen sollte die Aura bürgerlicher Kultur den Filmkonsum vom Ruch des Unterschicht-Vergnügens befreien. Dieses Kino bot acht Preisklassen, livrierte Platzanweiser und ein zehnköpfiges Orchester.
Medial Verwöhnte mögen sich fragen, ob ein Dokumentarfilm nicht geeigneter wäre als ein Rundgang, um die geballte Menge Information aufzunehmen, die Bienert bietet. Cineasten jedoch, die sich oder anderen schon lange beweisen wollten, daß ihre Leidenschaft für den Film nichts, aber auch gar nichts zu tun hat mit der bequemen Körperhaltung, in der man ihr frönt, sei der knapp dreistündige Rundgang wärmstens empfohlen. Simon Heusser
Während der Berlinale (bis 20.2.) täglich 11 Uhr, Abmarsch vor dem Festspielbüro, Budapester Straße 48.
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