Sanssouci: Nachschlag
■ Lesung von Eike Geisel im Literaturhaus in der Fasanenstraße
Die Welt, betrachtet durch ein pazifistisches Bettlaken, sieht ziemlich einfach aus. Wir, die Friedfertigen, und gegenüber die Bösen: von Bush über Biermann bis Broder eine einzige Frontlinie. Normalerweise wird auch der Berliner Autor Eike Geisel dort verortet, hatte er doch während des Golfkriegs Ekkehart Krippendorff und Rudolf Augstein eines „moralischen Antisemitismus“ bezichtigt. Manche scheint es zu verwirren, daß Geisel kein Jude ist. Sie scheinen anzunehmen, daß der Antisemitismus vor allem ein Problem der Juden ist.
Am Dienstag abend las Geisel im Literaturhaus aus seinen Texten. Er ist ein großer, hagerer Geselle, der mit seiner Nickelbrille wie ein verläßlicher Kassenarzt aussieht. Seine Diagnosen erfrischten: „Die Deutschen haben sich immer als Opfer gefühlt, Opfer der Nazis, des Kalten Krieges, der Nachrüstung, Umweltverschmutzung, des Waldsterbens, der deutschen Teilung und der deutschen Einheit. Sie waren nie Bürger dieser Welt, sondern immer die Verdammten dieser Erde.“ Die momentan grassierende Gedenkstättensucht analysierte er einleuchtend mit dem untergründigen Bedürfnis, der Shoah doch noch einen Sinn zuzusprechen und sich im Trauern, Hand in Hand mit Lea Rosh, wieder auf die richtige Seite zu mogeln. Geisel nannte die Antriebskraft dafür „Judenneid“ und konstatierte: „Die Deutschen sind das größte jüdische Volk der Welt.“ Doch leider kam nach dem Spott der Eifer. „Die Mitte verschiebt sich nach rechts“, Spielberg als „Wiedergeburtshelfer für die deutsche Identität“ und andere Plattheiten häuften sich.
Geisels wichtigstes Thema war die Affäre um „Auge um Auge“, ein Buch des amerikanischen Journalisten John Sack, das Racheakte jüdischer KZ-Überlebender an in Polen internierten Deutschen beschreibt. Sacks Verteidiger wollen in den melodramatisch beschriebenen Exzessen nicht mehr als eine Bestätigung dafür sehen, daß Opfer nicht automatisch bessere Menschen sind und sich die Shoah für keine nachträglichen Sinnstiftungen eignet. Nach Geisels Darstellung liefert „Auge um Auge“ jedoch Material für einen antisemitischen Feldzug gegen die „jüdische Rachsucht“. Das Buch wurde letzte Woche, wohl nicht zuletzt aufgrund der von Geisel angeregten Debatte, vom Piper Verlag kurz vor dem Erscheinungstermin zurückgezogen. Marko Martin
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