Sanssouci: Vorschlag
■ Imre Kertész liest im Literarischen Colloquium
„Gott ist Auschwitz“ – prägnanter und schockierender kann ein Glaubensbekenntnis kaum sein. Imre Kertész fügt in seinem „Galeerentagebuch“ (deutsch 1993) sofort hinzu, Gott sei „auch der, der mich aus Auschwitz herausführte“. Das ist kein Dementi, keine Negation, sondern eine Erweiterung. Die metaphysische Hoffnung namens Gott hat sich in den Gaskammern materialisiert. Fortan steht das Leben in ihrem Schatten.
Der bezwingend freundliche Ungar Kertész ist einer der letzten Überlebenden des Holocaust, er ist ein Intellektueller, der sich der Verzweiflung und der Trauer mit existentieller Radikalität stellt. Als Fünfzehnjähriger wurde er nach Auschwitz deportiert, ein Jahr später befreite ihn die Rote Armee im KZ Buchenwald.
Doch die Erfahrung des organisierten Massenmordes gab ihn nicht frei. Auschwitz versteht Kertész als die Chiffre des 20. Jahrhunderts, dieses „ununterbrochen diensttuenden Exekutionskommandos“. Die Reflexionen des freien Schriftstellers, der Kertész nach einigen Jahren als Journalist 1953 wurde, bewegen sich zwischen der Weigerung, das gesellschaftliche Dasein zu leben, und der Ratlosigkeit, wie eine Alternative aussehen soll. Denn die Welt ist leer – keine Instanz, mag sie Gott oder Gerechtigkeit oder Moral geheißen haben, schützt den Menschen mehr vor dem Abgrund. Mit Albert Camus' Existentialismus teilt Kertész die Erkenntnis: „Jenseits des Glaubens und vor dem Untergang ist der flüchtige, aber große Moment der Freiheit.“
Absurd ist die menschliche Existenz, und der Überlebende des Holocaust „lediglich ein äußerst tragischer Protagonist dieses Zustandes“. Kerstész versucht, den Holocaust für die Kultur zurückzugewinnen. Die – auch formal – paradoxe Anstrengung, von einem Nichtmitteilbaren zu sprechen und das „Überleben zu überleben“, spiegelt sein „Kaddisch für ein nicht geborenes Kind“ (deutsch 1992) auf atemberaubende Weise.
In seinem ersten Buch, „Schicksalslosigkeit“, schildert Kertész das Überleben eines Fünfzehnjährigen in deutschen Konzentrationslagern. Der Jugendliche vermag die Logik des Todes nachzuvollziehen; er erfährt die Haltlosigkeit der Kultur, der Moral, der Vernunft vor der totalen Verfügungsgewalt über das Leben, die nur den nicht verzweifeln ließ, der einen wie auch immer gearteten Glauben besaß. Weil „Schicksalslosigkeit“ nicht den offiziellen Darstellungen des Holocaust in Ungarn entsprach, erschien der Roman erst 1975 und blieb bis zur Neuausgabe 1985 weitgehend unbeachtet. Aus ihm liest Imre Kertész heute abend im Literarischen Colloquium. Jörg Plath
Literarisches Colloquium Berlin, Am Sandwerder 5, Wannsee, 20 Uhr. Nach der Lesung hält Wolfgang Benz einen Vortrag „über den Verlust des Individuellen in der Verfolgung“.
Eintritt frei.
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