Sammlung zieht um: Die Kunsthöhle
Der Hamburger Kunstkritiker Hajo Schiff hat 40 Jahre lang gesammelt, was ihm die Welt bedeutet: Wände und Zimmer seiner Wohnung sind voll mit Büchern, Skulpturen, Gemälden, Masken, Figuren. Nun muss er umziehen
HAMBURG taz | Durch die Wohnung von Hajo Schiff fliegt ein Engel und spielt Trompete. Ein Brunnen plätschert, daneben steht eine Birke, in der eine indianische Maske hängt, und das Konterfei eines Löwen. Unter einem Hirschgeweih befindet sich eine Ganesha-Figur, eine von 30 in dieser Wohnung, und Hajo Schiff sagt: „Den finde ich nett, diesen Elefanten-Gott, den mögen alle immer gerne.“ Schiff könnte auch sagen, auf welcher Reise er die Ganesha gekauft hat und wo das Hirschgeweih darüber herkommt.
Überhaupt könnte Schiff, 64, viel erzählen über seine Sammlung, die seine 100-Quadratmeter-Wohnung im Hamburger Grindelviertel so ausfüllt, dass zwar noch ein Durchkommen, aber kein Weitersammeln mehr möglich ist. Die Sammlung ist über die letzten 40 Jahre hinweg entstanden und hat Schiffs Wohnung zu einer Ausstellung gemacht. Es ist schwer einzuordnen, welche Art Ausstellung das ist. Klar ist nur: Es wird sie nicht mehr lange geben. Schiff muss nach 40 Jahren raus aus der Wohnung. Der Vermieter hat Eigenbedarf angemeldet.
Für Freunde großer Zahlen wäre es eine interessante Frage, wie viele Umzugskartons nötig wären, wenn man diese Wohnung in einem Zug leer räumen wollte. Schiff interessiert diese Zahl nicht. Er wird den Umzug in seine neue 100-Quadratmeter-Wohnung über sechs Monate strecken. „Es soll ein Prozess werden“, sagt er. Zuvor kommen noch Freunde zum Gucken, ein Fotograf dokumentiert den Status quo, und kürzlich war ein Seminar der Kunsthochschule da, um sich vor Ort Gedanken über Index-Systeme zu machen.
Nicht nur der Umzug, auch das Schiff’sche Werk entstand durch einen Prozess. Es war das Jahr 1974, Hajo Schiff war 24 Jahre alt, studierte freie Kunst an der Kunsthochschule in Hamburg, und die Wohnung war eine WG, und zwar eine klassische: Altbau, vier Zimmer, Küche, Bad, Grindelviertel – das ist das, was es heute auf dem Hamburger Wohnungsmarkt nicht mehr gibt.
Schiff begann zu sammeln, was ihm sammelnswert erschien. Er machte keinen Unterschied, ob der Gegenstand wertvoll war oder nicht, ob er eine Geschichte hatte oder keine, ob er Kunst war oder Kitsch. Ein Flaschenöffner hatte ebenso große Chancen, in die Sammlung aufgenommen zu werden, wie ein Gobelin-Teppich, ein Stofftier oder ein Kunstwerk von Neo Rauch, Alighiero Boetti oder einem Kommilitonen von der Kunsthochschule.
Schiffs Zimmer füllte sich. Immer, wenn ein Mitbewohner auszog, mietete er das frei gewordene Zimmer an, um Platz für seine Sammlung zu gewinnen. Mittlerweile wohnt er alleine in der Wohnung, die immer noch 100 Quadratmeter hat, sich aber wie eine 40-Quadratmeter-Wohnung anfühlt: Die Wände, die Regale, das Hochbett, alles ist voll.
Vordergründig betrachtet bietet Schiffs Wohnung einen dreidimensionalen Einblick in seine Biographie. Die antiken Möbel und Gemälde erzählen von seiner Herkunft aus einer Hamburger Kaufmannsfamilie, die Bücher erzählen von seinem Kunststudium, die Journale, Zeitungsausrisse und Kunstwerke erzählen von seiner Arbeit als freier Kunstjournalist, als der er unter anderem für die taz schreibt. Die Fotos, Postkarten, Masken, Regenschirme, Statuen, Figürchen, Teppiche und Bilder stammen von seinen Reisen – Schiff reist viel und weit, er war mehrmals unter anderem in China, Indien und Brasilien.
Und dennoch hat Schiff nicht einfach seine Biographie anhand von Gegenständen konserviert. Er hängt keine dokumentarischen Fotos, erste Computer oder Milchzähne auf. Er hat das gesammelt, was ihm unter einem ästhetischen Aspekt sammelnswert schien. Seine Wohnung ist das Ergebnis eines ästhetisierten Blickes auf die Welt. Sie ist das Zeugnis eines Lebensentwurfs, der das Ästhetische in den Mittelpunkt stellt. Als solche ist sie ein Statement und mehr als eine private „Kunsthöhle“ – letzteres ist die Bezeichnung, die Schiff für seine Wohnung selbst wählt.
Neben der ästhetisierten Weltsicht ist der zweite Pfeiler in Schiffs Wohnung der Humor. Er zeigt sich in Gegenständen, die kurios finden muss, wer sie mit ästhetischer Distanz betrachtet: Da ist der Schal, der aussieht wie der Schal eines Fußball-Fans und den Schriftzug trägt: „Die Revolution sind wir“. Oder das Filmstill von Mr. Spock in SS-Uniform. Oder eine Anleitung für Japan-Besucher mit der Überschrift „So verbeugen Sie sich richtig“.
Auch finden sich viele Ausrisse aus Zeitungen und Büchern an Schiffs Wänden. Ein Schwarz-Weiß-Foto beispielsweise zeigt Helmut Kohl mit Sombrero, und zwar so schräg von unten fotografiert, wie es einem sich selbst gerne überhöhenden Politiker passen muss – nur, dass Kohl in diesem Fall aussieht wie ein schlecht ausstaffierter Karnevalsteilnehmer. Es ist ein Beispiel für das Knapp-Daneben, das Vergreifen im Ton, das Verkennen der Fallhöhe, das Schiff ebenso sehr mag wie ein Kunstwerk, das auf den Punkt kommt.
In der Küche setzt sich die Lust am Kuriosen in Form einer Getränke-Sammlung fort. Schiff hat eine Bierdose aus Griechenland der Marke „Mythos“, eine Bierdose aus Brasilien der Marke „Lecker“, eine Flasche Wein aus Föhr und sagt: „Wein, der aus Föhr kommt – Hallo?“. Unter den Whiskys gibt es einen aus Irland mit dem Namen „Writer’s Tears“, und Schiff sagt: „Eigentlich sollte man davon immer zwei Flaschen kaufen – eine zum Trinken und eine zum Aufbewahren.“
Wenn Schiff seine neue Wohnung bezieht, wird er sich von manchem trennen müssen. Er will 60 bis 100 Meter Bücherregal anschaffen und seine Exponate „eher musealisiert“ aufbewahren – „mehr Sammlung, weniger Tempel“. Das Abbauen hat bereits begonnen, und manches, wie zum Beispiel die Wandmalerei in der Küche, lässt sich nicht mitnehmen.
Vielleicht ist dieser Umzug aber auch gar nicht schlecht: Die eigene Geschichte permanent vor Augen zu haben könnte den Blick auf Gegenwart und Zukunft verstellen. Hajo Schiff macht nicht den Eindruck, als würde das auf ihn zutreffen. Vielmehr wird er in der neuen Wohnung wieder Platz haben, für die Gegenstände, die da kommen: Das Leben geht weiter. Das Sammeln auch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!