Sammelband zum Thema Abtreibung: Texte gegen die Stigmatisierung
Vielstimmig und empathisch nähert sich der Band „Glückwunsch“ dem Thema Abtreibung – ohne dabei die Komplexität zu vernachlässigen.
Charlie ist schwanger. Für die Abtreibung fährt sie in ihr Heimatdorf. „Na, Kondom geplatzt? Passiert“, sagt ihr Gynäkologe nur. Ihre Freundin Kessi begleitet sie, bei ihr kann sie sich nach dem Eingriff ausruhen. In Rückblenden erinnert sich Charlie, wie sie selbst wiederum einige Jahre zuvor eine Freundin bei ihrem Abbruch begleitet hatte.
Von Freundinnenschaft erzählt der Text, von Überforderung aufgrund des Mangels an Informationen – und von der Selbstverständlichkeit der Entscheidung für die Abtreibung. „Glückwunsch, Sie sind nicht mehr schwanger“, verkündet die Anästhesistin am Ende von Stefanie de Velascos Erzählung, einer von 15 in einer unlängst erschienen thematischen Anthologie, die nun auch in Hamburg vorgestellt wird.
Irritierend, zumindest auf den ersten Blick, ist ihr Titel: „Glückwunsch!“ wird doch eher dann gesagt, wenn eine Frau verkündet, sie sei schwanger. Dass aber der Abbruch einer Schwangerschaft ebenso große Freude und Erleichterung bedeuten kann: Das wollen die Texte deutlich machen.
Das Buch erscheint in einer Zeit, da der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen wieder stärker öffentlich diskutiert wird; es kann als Intervention in die gesellschaftliche Debatte gelesen werden. Während Deutschland im vergangenen Jahr den Zugang zu Informationen über Schwangerschaftsabbrüche erleichtert hat, wird die Möglichkeit der Abtreibung in anderen Teilen der Welt weiter eingeschränkt oder gleich ganz abgeschafft. Aber auch hierzulande ist die Regelung fragil: Nach wie vor sind Schwangerschaftsabbrüche im Strafgesetzbuch geregelt – sie sind straffrei nur unter bestimmten Bedingungen.
Glückwunsch. 15 Erzählungen über Abtreibung. Hg. von Charlotte Gneuß und Laura Dshamilja Weber. Hanser Berlin 2022, 208 S., 23 Euro; E-Book 16,99 Euro
Wie leicht dieser Zustand in ein komplettes Verbot kippen kann, macht Theresia Enzensberger in ihrer Erzählung deutlich: Ihre Protagonistin Maria arbeitet als moderne „Engelmacherin“ in einer nicht näher bestimmten Zukunft. „Alles, was es brauchte, war eine Abschaffung der Beratungsregelung, die in der frühen Schwangerschaft bisher eine Ausnahme geschaffen hatte“, heißt es da; kurz darauf verblutet eine von Marias Patientinnen beinahe auf ihrer Couch. Die drastische Schilderung verdeutlicht, was unsichere Abtreibungen für Frauen bedeuten können.
Mit ihrer Anthologie wenden sich die Herausgeberinnen Charlotte Gneuß und Laura Dshamilja Weber gegen die Stigmatisierung von Abtreibungen – aber auch gegen die Schwierigkeit, darüber zu sprechen. Literarisch lasse sich versprachlichen, was gesellschaftlich (noch) nicht möglich sei, schreiben sie im Vorwort.
Zuletzt erlangte die Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux mit ihrem autofiktionalen Roman „Das Ereignis“ viel Aufmerksamkeit. Darin schreibt sie über ihre Abtreibung in den 1960er Jahren, an der sie beinahe gestorben wäre. Daneben gibt es nicht viele Beispiele literarischer Verhandlungen von Abtreibungen, insbesondere solche, die das Selbstbestimmungsrecht der Frauen in den Mittelpunkt stellen.
Die an der Anthologie beteiligten Autor*innen nähern sich dem Thema auf unterschiedliche Weise, beschreiben vielfältige Erfahrungen. Ihre Protagonist*innen leben in vergangenen und zukünftigen Jahrhunderten, im Irak, der DDR oder dem wiedervereinigten Deutschland. Einige sind traurig über den Abbruch, andere klar entschieden und erleichtert. Egal unter welchen Umständen die Abtreibung stattfindet und wie sie erlebt wird: Die Erzählungen verdeutlichen die Alltäglichkeit ungewollter Schwangerschaften und die Notwendigkeit, eigenständig über deren Abbruch zu bestimmen.
Die fiktionale Form ermöglicht es, unterschiedliche Kontexte und Emotionen abzubilden. Dabei eröffnen sich auch utopische Perspektiven, die einen anderen Umgang mit Abtreibung denkbar werden lassen. So fährt Yael Inokais Protagonistin Romy mit dem Elektroauto durch die Stadt und liefert Staubsauger-ähnliche Maschinen aus, mit denen die Kund*innen zu Hause abtreiben können.
Lesung mit Stefanie de Velasco, Raphaëlle Red und Alexandra Antwi-Boasiako (Moderation): Mi, 8. 3., 19.30 Uhr, Hamburg, Literaturhaus, und online (https://streaming.reservix.io/e2058384)
Auch gelingt es dem Buch, Erfahrungen sichtbar zu machen, die im politischen Kampf um Abtreibung bislang vielfach unterrepräsentiert bleiben: „Kinder? Ja, nein – vielleicht? Wer darf sich diese Frage stellen?“, schreibt Jayrôme C. Robinet in seiner Erzählung. In Form eines Briefs an seine Mutter umkreist der Protagonist die eigene Abtreibungserfahrung, die Benachteiligung von trans Menschen im Gesundheitswesen sowie überhaupt Rassismus und Klassismus in der Abtreibungsdebatte. Indem sie auch Texte von Autoren aufnehmen, wenden sich die Herausgeberinnen gegen die Auffassung, Abtreibungen seien ein „Frauenthema“. Leider bleiben gerade die Protagonist*innen der Männer eher holzschnittartig.
Der Versuch, eine Sprache zu finden für das, was gesellschaftlich tabuisiert ist, resultiert in vielfältigen Erzählformen, die neugierig machen auf jede einzelne Erzählung: Neben Kurzgeschichten, Briefen und Protokollen finden sich Texte jenseits klassischer Erzählformen. Raphaëlle Reds Text ist eine assoziative Folge von Sätzen, die die Gemeinsamkeit der Erfahrung über Generationen, Klassen und Grenzen hinweg verdeutlicht: „Die Ladies trinken Sangria in Magaluf. Die Ladies sagen: Hex Hex. Die Ladies trinken Brennnesseltee. Die Ladies finden es ziemlich retro, Abtreibungen verteidigen zu müssen.“
Für einen sicheren und niedrigschwelligen Zugang zum Abbruch werben alle Beiträge des Bandes. Mit ihrer Anthologie ist es den Herausgeberinnen gelungen, einen empathischen Umgang mit Abtreibungen darzustellen, ohne deswegen die Komplexität des Themas zu vernachlässigen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
SPD-Linker Sebastian Roloff
„Die Debatte über die Kanzlerkandidatur kommt zur Unzeit“
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus