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Sammelband über Cancel CultureDie Argumente der anderen

Der Hanser Verlag versammelt Beiträge zum Thema Canceln. Die aktuelle Anthologie bemüht sich redlich, den Kulturkampf zu verlassen.

Bewahrenswerte literarische Figur oder rassistische Stereotype – um Jim Knopf gibt es Canceldebatten Foto: Bernd Feil/imago

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Canceln regelmäßig sein Gegenteil bewirkt. Der öffentlichkeitswirksame Versuch, ein Buch, einen Film oder den Auftritt einer Person zu verhindern, führt zuverlässig zu einer Steigerung von Prominenz, zu einem Mehr an Debattenbeiträgen, Veranstaltungen und Büchern.

Der Hanser Verlag enthebt den Reizbegriff mit seiner Anthologie „Canceln – Ein notwendiger Streit“ nun dem Nahkampf. Der Band möchte erkennbar dazu beitragen, die erhitzten Gemüter zu beruhigen, oder traut wenigstens den Anhängern eines Lagers die Aufgabe zu, über mehrere Seiten Argumente der Gegenseite zu würdigen. Den Anfang macht Zeit-Redakteur Ijoma Mangold, indem er die Fronten klärt.

Mangold ist bekannt als gut gelaunter Intellektueller, den seine Lust am Widerspruch im tendenziell linksliberalen Umfeld des Feuilletons zum Konservatismus neigen lässt. Ihn störten vor allem die ungleichen Voraussetzungen in dem Konflikt. Lange behaupteten identitätspolitisch engagierte Linke, es gäbe gar keine Cancel Culture, und die so verunglimpften Einlassungen wären nichts anderes als zivilgesellschaftliches Engagement.

Damit ist nun Schluss, da auch die Akteure in diesem Kulturkampf benannt sind. Wenn unliebsame Personen als Rechte, als TERFs oder als alte weiße Männer niedergeschrien werden, müssen die cancelnden Personen nun auch damit leben, als „Woke“ dazustehen. Mit der Konstatierung dieser „Waffengleichheit“ verabschiedet sich Mangold auch schon aus der Debatte und räumt sogar ein: „Vielleicht haben am Ende die Vertreter der Identitätspolitik mit ihren Positionen und Ansichten recht, wer kann das schon wissen, das werden wir in zwanzig Jahren im Rückblick klarer sehen.“

Der Sammelband

Annika Domainko, Tobias Heyl, Florian Kessler, Jo Lendle, Georg M. Oswald (Hg.): „Canceln – ein notwendiger Streit“. Hanser, München 2023. 224 Seiten, 22 Euro

Die politische Öffentlichkeit wäre demnach also wieder funktionsfähig, da nun ein Gleichgewicht zwischen an­tagonistischen Kräften hergestellt wäre. Diese Analyse setzt jedoch voraus, dass die Verschärfung des Umgangs miteinander vor allem in den sozialen Netzwerken keinen größeren Schaden verursacht, mithin, dass sich am Ende alle Beteiligten doch noch Habermas' „zwanglosem Zwang des besseren Arguments“ beugen.

Wie im Kampf gegen Barbaren

Der Philosoph Konrad Paul Liessmann würde hier wohl widersprechen, er sieht die Kultur im Ganzen in Gefahr, und zwar durch Ignoranz. Seine Verteidigung aufgrund rassistisch verstandener Textstellen inkriminierter Denkerinnen und Denker wie Immanuel Kant, Ernst Moritz Arndt oder Hannah Arendt gipfelt im Gegenvorwurf, es ginge den Kritikern lediglich darum, sich an der eigenen Gewalt über den Diskurs zu berauschen.

Cancel Culture erweist sich nur allzu oft als Ressentiment im hehren Gewande der Moral, selbstgefällig und denkfaul, aber machtbewusst.“ Überspitzt gesagt, schießt Liessmann hier gegen eine Horde Barbaren, die nicht fähig sind, bestimmte Sätze in Bezug auf ein Gesamtwerk einzuordnen.

Doch steckt wirklich Denkfaulheit dahinter? Näher liegt, dass Liessmann einem Missverständnis aufsitzt, während die Kritiker ihre Empörung durchaus bewusst und strategisch einsetzen. Wenn Studenten sich weigern, Kant zu lesen, weil sie auf Twitter Screenshots rassistischer Passagen aus dessen Werk entdeckt haben, dann verstehen sie den Königsberger eben nicht als Philosophen und Wegbereiter der Moderne, sondern als eine sehr konkrete politische Figur.

Und natürlich ist diese Figur nicht auf lautere Weise mit dem Kant des Konrad Paul Liessmann in Einklang zu bringen. Diese Inkongruenz überzubewerten, geht am Thema vorbei. Sie ist eben einer Politisierung geschuldet, die vor ehedem gut geschützten Institutionen wie der akademischen Philosophie nicht Halt macht.

Das Silberbesteck des Denkens

Vom intellektuellen Standpunkt aus betrachtet nicht weniger enttäuschend als absichtsvoll verkürzte Lektüren ist im Übrigen die aggressive Vehemenz hochgebildeter Cancel-Kritiker wie Liessmann, sofern sie eben nur die naheliegendsten und schlechtesten, das heißt persönliche Motive unterstellen. Selbst wenn diese in vielen Fällen zutreffen sollten, gälte es doch noch etwas mehr zu entdecken als egozentrische Querulanz.

Treten junge Identitätspolitiker mit unredlichen Mitteln auf den Plan, dann womöglich auch deshalb, weil sie genau wissen, dass ihre Mütter und Väter mit dem blitzblank polierten Silberbesteck des Denkens (Universalismus, Konstruktivismus, Postmoderne Theorie) nicht gegen Rassismus, Kolonialismus oder Sexismus ankamen.

Ob der Furor jedoch tatsächlich zielführend ist, steht auf einem ganz anderen Blatt. Johannes Schneider, ebenfalls Zeit-Redakteur, bringt seine Feldforschung in Bierzelten in die Debatte ein. Dort bemerkte er, dass die Skandalisierung des misogynen Partyhits „Layla“ das Verhalten der versammelten Festgemeinden stark verändert hatte. Zuvor sei das Lied durchaus ironisch gesungen worden, „mit einem feinen Bewusstsein dafür, dass man hier die unterste Schublade aufzieht, auch um sich dabei als lächerlich verrenkte Figur selbst beobachten zu können“.

Danach sei „Layla“ zur Freiheitshymne verkommen. „Wie laut es dann in den Zelten wurde, jedes der unzähligen Male, die das vermeintlich verbotene Lied erklang, das hatte schon etwas Unheimliches, weil Aufgehetztes.“ Man erkennt hier, wie leicht der Ruf nach Anstand ins gegrölte Gegenteil umschlägt.

Folgen aggressiver Rhetorik

Die Ansprache ist dabei oft entscheidender als die Argumente. Es ist nicht nur Gerede, dass sich viele Menschen, die sich ein Leben lang als liberal oder sogar links verstanden, rasch bevormundet und missverstanden fühlen, wenn sie die Maßgaben einer zeitgeschichtlich jungen Identitätspolitik verfehlen. Anstatt in einen Dialog zu treten, riskieren Aktivisten, diese Milieus mit ihrer aggressiven Rhetorik zu verschrecken.

Einige Beiträge des Bands versuchen beide Lager wieder füreinander zu interessieren. So legt Asal Dardan mit unbestreitbarem Interesse an Michael Ende dar, warum dessen Geschichten von Jim Knopf Kindern heute keine zeitgemäßen Botschaften mehr vermitteln. Die in derlei Fragen wegen ihrer humorvollen Besonnenheit ohnehin unverzichtbare Mithu Sanyal verteidigt ihre Lieblingsautorin Enid Blyton dagegen trotz aller politischen Anachronismen in deren Werk.

Und die Wissenschaftsjournalistin Anna-Lena Scholz gibt sogar Hinweise, wie der Umgang mit Cancel Culture weitergehen könnte. Sie rekapituliert den Skandal um Dieter Nuhr und die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG). Diese hatte den Komiker als Protagonisten einer Marketing-Kampagne engagiert, sein Statement aber nach einem Shitstorm gleich wieder gelöscht.

Schema des Kräftegleichgewichts

Scholz kritisiert die vorschnelle Reaktion der DFG und ihre unprofessionelle Kommunikation. Sie erkennt in dem Fall jedoch auch große gesellschaftliche Wertschätzung für die Wissenschaft und eine Bereitschaft, sich über ihre Bedingungen und Ziele auszutauschen. Vor allem aber betont sie, dass das Canceln lediglich eine Option für bedrängte Verlage, Veranstalter oder Institutionen ist. „Wo Cancel Culture diagnostiziert wird, artikuliert sich eine Angst vor dieser Möglichkeit.“

Das Schema eines Kräftegleichgewichts zweier Lager kann damit ergänzt werden, denn zum Canceln gehören immer drei. Institutionen sind nicht einfach die Spielfelder, auf denen Linke und Konservative um Deutungshoheit konkurrieren. Sie können selbst aktiv und ihren eigenen Maßstäben folgend reagieren.

Cancel Culture könnte für sie sogar eine Chance sein, die eigenen Werte und Maximen klar zu definieren, um sie im Falle des Falles auch in der Öffentlichkeit offensiv zu vertreten. Mit etwas Optimismus wäre es somit vorstellbar, dass Canceln in der nahen Zukunft ein übliches Ins­trument der politischen Auseinandersetzung ist, das gezielt Aufmerksamkeit bündelt, jedoch ohne dass dabei eine Partei die Nerven zu verlieren bräuchte.

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4 Kommentare

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  • Die Buchbesprechung macht neugierig, auch wenn der Autor gleich zu Beginn eine ziemlich unsachliche Kollegenschelte raushaut: »Mangold ist bekannt als gut gelaunter Intellektueller, den seine Lust am Widerspruch im tendenziell linksliberalen Umfeld des Feuilletons zum Konservatismus neigen lässt.« Vielleicht ärgert ihn, dass ausgerechnet der linke, afrodeutsche Literaturkritiker sein wokes Weltbild in Frage stellt? Ijoma Mangold weiß sehr pointiert gegen das „Canceln“ und andere identitätspolitische Angriffe auf die Kunstfreiheit zu argumentieren. Denn wo die Literatur durch Verbote, Einschüchterung und Sensitivity-Readers deformiert wird, steht wirklich viel auf dem Spiel. Zumal, wenn jeder Kritiker der reinen Wokeness gleich in die rechte Ecke gestellt wird.

  • Bei Kant geht es nicht nur um als "rassistisch verstandene Textstellen", sondern seine Anthropologie ist eindeutig rassistisch. In dieser Anthropologie bleibt er hinter seinem Universalismus weit zurück. Wie soll man nun damit umgehen?



    Die beste Verfahrensweise wäre Kritik. Canceln hingegen bedeutet letzten Endes Zensur. Es wird erst dadurch zur Option, dass "junge Identitätspolitiker" an die erkenntnistheoretischen Grundlagen Postmoderner Theorie und des Konstruktivismus anschließen. Bei ihnen ist die Frage nach der Verteilung von Macht der Frage nach der Wahrheit vorgeschaltet, weshalb ihre Ideologie eine besorgniserregende Tendenz zum Dogmatismus inhäriert. Es handelt sich um Standpunktphilosophie, "welche die Gegenwart zu be- und verurteilen, aber nicht zu begreifen weiß“ (Marx, MEW 23: 528).



    Davon abgesehen, dass diese Ansätze daran scheitern, die Ambivalenz bei Denkern wie Kant auszumachen und den kritischen Gehalt solcher Theorien freizulegen, werden sie auch an den Machtverhältnissen nicht allzu viel ändern. Dazu sind die zugrundeliegenden Theorien zu unausgegoren, sofern man überhaupt von "Theorie" sprechen kann. Es ist kein Zufall, dass die Überlegungen von Kendi oder DiAngelo eher als Leitfaden daherkommen, anstatt die den bestehenden Herrschaftszusammenhängen zugrundeliegende Systematik zu erklären.



    Ich befürchte aber, dass Michael Wolfs Hoffnung, dass "Canceln in der nahen Zukunft ein übliches Instrument der politischen Auseinandersetzung ist", sich bewahrheiten dürfte. Marx und Adorno sind als Nächstes dran. Und irgendwann wird man dann vielleicht zurückblicken und sich wundern weshalb man daran gescheitert ist die Gegenwart zu begreifen.

  • Was mir an der Cancel-Culture gefällt? Sie fördert die Toleranz.



    Was mir an der Cancel-Culture missfällt? Sie verlangt unwidersprochene Akzeptanz.



    Wer nicht automatisch auch akzeptiert, was er gerne toleriert, wird zum Schweigen gebracht.

    • @Galgenstein:

      So als (theoretisch) demokratische Gesellschaft, die Demokratie ned als Ochlokratie ("Pöbelherrschaft") mißversteht, müssen heutzutage menschenverachtenderweise immernoch an den Rand gedrängte Mitmenschen eben akzeptiert und damit geschützt werden.



      So einfach isses manchmal und z.B. trägt das präpubertäre Absingen eines schlechten Liedes auf dem Junge-Union-Treffen, welches übrigens in Würzburg vom dortigen CSU-OB zuerst cancelled, also zumindest als Versuch, wurde, ned zur Verbesserung der Situation für Sexarbeiter*innen bei. Da hilft "nur" aufrichtige Akzeptanz und da hat die JU einige Defizite in Bezug auf Mitbürger- und (am Rande haha) auch (potentielle) Wähler*innen.