Salafismus in Deutschland: Allah statt Playstation
Der Berliner Schüler Stefan Moser entdeckt im Internet den Islam. Er taucht in eine Welt ein, die der genaue Gegenentwurf zu seinem alten Leben ist – die der Salafiten.
In seinem alten Leben war Stefan Moser ein kleiner Gangster. Er nannte sich Styla, zog mit seiner Clique durch die Straßen, die Jungs machten wildfremde Leute an, baggerten an Mädels herum, soffen, kifften und rannten vor den Bullen weg. Und sie hörten Gangsta-Rap, die Songs von Sido, der hier aus dem Viertel kommt. Richtig wohlgefühlt hat sich Stefan in der Clique nie, sagt er.
In seinem neuen Leben steht Stefan in der Morgendämmerung auf, rollt einen Teppich aus und betet. Er hat angefangen Arabisch zu lernen, fünf Koransuren kann er schon auswendig. Mit Alkohol will er nichts mehr zu tun haben, und wenn er ein hübsches Mädchen sieht, guckt er auf den Boden. Als er neulich an seinen alten Kumpels vorbeilief mit einem Rucksack auf dem Rücken, da riefen die: "Alter, hast du da ne Bombe drin, oder was?" Er ging einfach weiter.
Stefans neues Leben hat an einem Abend im Herbst 2008 angefangen. Er sitzt zu Hause in der Wohnung, die er sich mit seiner Mutter teilt. Ein Hochhaus im Norden Berlins, ein Problemkiez. Stefan schaut sich in seinem Zimmer Islamvideos im Internet an, wie so oft in den Wochen davor. Er hat sie auf YouTube entdeckt. Heute geht er einen Schritt weiter. Er spricht einem der Männer in den Videos auf Arabisch nach: "Ich bezeuge, dass es keinen Gott gibt außer Allah, und ich bezeuge, dass Mohammed sein Gesandter ist." Von nun an ist Stefan kein Christ mehr. Von nun an ist er Muslim.
Geschichte Salafiten orientieren sich an den Vorstellungen der "frommen Altvorderen" aus der Frühzeit des Islam vor 1.400 Jahren und richten ihr Leben streng am Koran und der Prophetentradition aus, der Sunna. Alle Islamneuerungen halten die Salafiten für eine Abweichung vom wahren Glauben, für "Bida".
Grundgesetz Verfassungsschützer halten die Befürwortung frühislamischer Herrschafts- und Gesellschaftsformen für unvereinbar mit dem Grundgesetz und warnen vor einer "hochgradig radikalisierungsfördernden Wirkung" des Salafismus. Vor allem den mehrtägigen Islamseminaren komme eine "zunehmende Bedeutung bei der Radikalisierung zu".
Ermittlungen Im vergangenen Jahr hat die Polizei in fünf Bundesländern Wohnungen, Moscheen und Verlagsgebäude salafitischer Gruppen durchsucht, die Staatsanwaltschaft München ermittelt wegen des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung. Beobachter werten die Razzia als Signal an die Szene. Ob es je zum Prozess kommt, ist unklar. WOS
Stefan ist 17 Jahre alt und heißt in Wirklichkeit anders. Aber stünde hier sein richtiger Name, würde sich seine Mutter vielleicht Sorgen machen. Oder seine Lehrer. Womöglich würden sich sogar die Behörden für ihn interessieren. Denn Stefan hat sich einer umstrittenen Strömung des Islam angeschlossen: den Salafiten. Die propagieren einen ultrafrommen, strikt am Wortlaut des Korans und der Sunna ausgerichteten Urislam. Sie orientieren ihr ganzes Leben am Vorbild des Propheten Mohammed und den "frommen Altvorderen" vor 1.400 Jahren, den al-Salaf al-Salih - daher die Bezeichnung Salafismus. Sie teilen die Welt in richtig und falsch, in Gebotenes und Verbotenes. Ihren Anhängern prophezeien sie das Paradies - und den Ungläubigen die Hölle.
Die Salafiten bilden eine kleine, radikale Minderheit unter den Muslimen in Deutschland. Eine Minderheit, die stetig wächst. Das beobachten zumindest Experten wie Claudia Dantschke vom Zentrum Demokratische Kultur, die sich seit Jahren mit der Szene befasst. Sie schätzt, dass inzwischen rund 30 Moscheegemeinden in Deutschland salafitisch geprägt sind - von rund 2.500 insgesamt.
Im Internet werben die Salafiten massiv um Nachwuchs. Hunderte Missionierungsvideos und Aufnahmen von Konvertierungen haben sie ins Netz gestellt, auf Seiten wie islamvoice.de, einladungzumparadies.de oder diewahrereligion.de. Sie werden zehntausendfach angeklickt, nicht zuletzt, weil sie auf Deutsch sind. Das gab es vorher kaum - bis die Salafiten die Lücke schlossen. Wenn heute Deutsche oder Migranten aus der zweiten und dritten Einwanderergeneration im Netz Informationen zum Islam suchen, landen sie fast zwangsläufig auf den Salafiten-Seiten. Die Verfassungsschützer beunruhigt das zunehmend. Sie warnen vor einer "hochgradig radikalisierungsfördernden Wirkung" des Salafismus - gerade auf Islamanfänger. Die Frage, was junge Leute an dem erzfrommen Islam fasziniert, beantworten die Behörden nicht.
Berlin-Neukölln im Juli. Die Al-Nur-Moschee ist in einem Gebäude aus Waschbeton untergebracht. Mehr als 700 Menschen sind an diesem Wochenende gekommen, aus Berlin, Köln, Wiesbaden, Stuttgart. Die Frauen sitzen im oberen Stockwerk, die Männer im Erdgeschoss. Viele von ihnen sind zwischen 14 und 30. Einige tragen Bart, Häkelmütze und weite, knöchelfreie Gewänder. Andere Jeans, T-Shirt und Baseballmütze - noch.
"Die verborgene Welt" heißt das Seminar, zu dem sie gekommen sind. Drei Tage lang lernen sie, wie ein gottgefälliges Leben aussieht. Und was sie dafür im Jenseits erwartet. Werbeflyer für das Seminar lagen in Dönerbuden aus. Es richtet sich vor allem an Neulinge. Essen und Übernachtung sind kostenlos.
Es ist heiß in der Moschee. Immer wieder gehen Helfer mit Wasserflaschen durch die Reihen. Später beim Abendessen sitzen die jungen Männer zusammen auf dem Boden, bei Reis, Fleisch und Salat, sie reichen sich Fladenbrot, nennen sich gegenseitig "Bruder". Ist es das, was ihnen gefällt? Die Gemeinschaft? Der Zusammenhalt?
Viele der jungen Männer erzählen voller Abscheu von ihrem alten Leben. Da ist der 30-jährige Deutschlibanese aus Berlin-Neukölln, der "viel Scheiße gebaut hat", darunter auch Einbrüche. Oder der 25-jährige Deutschtürke aus der Nähe von Ludwigsburg, der früher "von Montag bis Sonntag in der Disko" war. Oder eben der 17-jährige Stefan, der von diesem ganzen Ghettogehabe genug hatte. "Ich will die Wahrheit finden", sagt er.
Es sind Geschichten, wie man sie auch von wiedergeborenen Christen hören kann, den Evangelikalen. Auch in deren Gruppen stranden viele Suchende, Verzweifelte, Gescheiterte. Überhaupt sind die Parallelen zwischen Evangelikalen und Salafiten nicht zu übersehen: Beide Bewegungen kämpfen gegen eine als dekadent empfundene moderne Welt, die voller Pornografie, Homosexualität und anderem Schmutz sei. Und beide versprechen das Heil durch ein gottgefälliges Leben.
"Allah ist größer als dein Playstationspiel!", ruft einer der Referenten an diesem Wochenende. Und ein Seminarteilnehmer sagt: "Eine Minute Internet zerstört so viele Gehirnzellen wie ein Glas Wodka." Er meint damit die Sexseiten. Die mit den Islamvideos meint er nicht. Es ist eine Bewegung voller Widersprüche.
Hauptreferent ist Abdul Adhim, der aus Marokko stammende Prediger der Moschee. Er ist Anfang 30 und einer der Stars der deutschen Salafiten. Abdul Adhim trägt einen ungestutzten Bart und einen roten Sarik, die Kopfbedeckung der Vorbeter. Er sitzt an einem Tisch, die Teilnehmer auf dem Boden vor ihm. Kameras filmen den Vortrag, damit er ins Internet gestellt werden kann. Und damit die Frauen im oberen Stockwerk auf einem Bildschirm mitschauen können. Abdul Adhim hebt den Zeigefinger. "Machen wir uns bereit für die Worte Allahs, dass sie unsere Herzen aufmachen", sagt er.
Stefan sitzt während des Vortrags auf dem Teppich. Er lauscht aufmerksam, macht sich von Zeit zu Zeit Notizen. Er hat sein Herz schon geöffnet, auch wenn er nicht alles versteht.
Abdul Adhim wettert gegen den Materialismus, die Fixierung auf Geld und Besitz. Und die Wissenschaft, die heute zur Gottheit erhoben werde. Er lächelt häufig, in vielem, was er sagt, bleibt er blumig, doch in einem ist er eindeutig. Was im Jenseits mit denen passiert, die den Islam nicht annehmen. "Dann sagt Allah zu ihnen: Schmeckt die Strafe für das, was ihr verleugnet habt."
Terror und Gewalt verurteilt Abdul Adhim. "Wir wollen so etwas nicht haben", sagt er. Das hat vielleicht auch mit seinem Vorgänger zu tun, dem Imam Salem el-Rafei. Unter ihm galt die Moschee als Anlaufstelle auch gewaltbereiter Islamisten, 2005 wurde ihm die Wiedereinreise nach Deutschland verweigert.
Doch auch wer nicht offen Hass predigt, predigt noch lange keine Toleranz. Der Verfassungsschutz hat vor Jahren ein Gespräch zwischen Abdul Adhim und einem Freund abgehört. Sie machen Späße: Wenn sich alle Pilger zusammentäten und auf die Ungläubigen spuckten, dann würden die in einem Meer aus Spucke ertrinken. Vor wenigen Wochen sollte ein jamaikanischer Imam in die Al-Nur-Moschee kommen, der Homosexualität mit dem Tod bestraft sehen möchte. Er sollte mit dem Superstar der deutschen Salafiten auftreten: Pierre Vogel, ein konvertierter Wanderprediger mit rotem Bart, dessen Internetvideos einen großen Anteil am Boom des Salafismus haben. Erst nach Protest des Lesben- und Schwulenverbands wurde der Vortrag des Jamaikaners abgesagt.
Vogels Videos waren es auch, die Stefan zum Islam geführt haben. Auf dem Seminar in Berlin-Neukölln bleibt er nun das ganze Wochenende. Er hat seinen Schlafsack mitgebracht. Am Abend rollt er ihn in einer Ecke der Moschee aus. Nachts um drei wacht er auf. Zeit für Fadschr, das Frühgebet. Stefan reiht sich ein, verbeugt sich, wirft sich nieder. Nach dem Gebet legt er sich wieder schlafen. Sein Rücken schmerzt vom harten Boden, aber das ist ihm egal.
Wenige Tage später in einem Einkaufszentrum in Nordberlin. Stefan trägt Jeans und Nike-Turnschuhe. Nach den Sommerferien, erzählt er, wolle er erst einmal sein Abitur angehen, dann vielleicht Entwicklungshelfer werden, Arzt oder Kriminalpolizist. Nur Banker, das könne er sich nicht vorstellen. Zinsen zu nehmen sei unislamisch. Gerade hat sich Stefan seinen ersten Koran auf Arabisch gekauft. Er ist in Leder eingebunden, mit Reißverschluss, ein Koran zum Mitnehmen. "Das Gesetz des Islam ist zum Schutz", sagt er. "Es schützt dich und die Gemeinschaft." Er überlegt nun, sich einen islamischen Namen zu geben. Bilal vielleicht, Ibrahim oder Wasil.
Stefan ist ein eher ruhiger Junge, aber eine Frage lässt ihn unruhig werden. Glaubt er, dass er seine christliche Mutter im Paradies wiedersieht? "Vielleicht wird sie noch auf ihren Schöpfer zugehen", sagt er. "Ich hoffe es."
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