Sagenwelt im Harz: Und überall die Brockenhexe
Im wunderschönen Harz begegnet man vielen Mythen: Vom Harzer-Hexen-Stieg, den Zwergen, Bergmönchen und Frau Holle.
Es ist kalt, nass, nebelig, das Rauschen der Baumwipfel fast unheimlich. Ich bin alleine in diesem Wald, seit Stunden habe ich niemanden auf dem Hexen-Stieg getroffen. Nebel legt sich zwischen die Bäume des ohnehin undurchdringlichen Waldes. Die Zwerglein und Hexen könnten jetzt ungestört ihr Unwesen treiben. Ich wandere im Sagenharz.
Hier, auf dem Blocksberg, sollen in der Walpurgisnacht die Hexen mit dem Teufel tanzen. Manchmal lässt sich auch der Bergmönch blicken, und kleine Zwerge tummeln sich in Bergbauschächten. Vielleicht begegne ich auch Frau Holle, die vermutlich auf eine germanische Göttin zurückgeht. Hier, im Harz, trifft magische Natur auf sagenreiche Tradition. Ich wandere auf dem Harzer-Hexen-Stieg zum Brocken – bei Regen und bitterkaltem Wind.
Die berühmteste Sage des Harzes ist die Walpurgisnacht. In der Nacht zum 1. Mai kommen die Hexen auf den Hexentanzplatz auf dem Brocken. Goethe hat die Legende popularisiert, als er im „Faust“ seine berühmte Walpurgisnachtszene schrieb und sie damit in der Weltliteratur verewigte:
Die Hexen zu dem Brocken ziehn,
Die Stoppel ist gelb, die Saat ist grün.
Dort sammelt sich der große Hauf, Herr Urian sitzt oben auf.
So geht es über Stein und Stock,
Es farzt die Hexe, es stinkt der Bock.
Die Hexe ist ein Marketingspektakel
„Die Hexe ist die Symbolfigur des Harzes“, sagt Carola Schmidt vom Harzer Tourismusverband. „Sie gehört wie selbstverständlich zu uns.“ Überall ist sie zu finden: Auf den historischen Schildern auf der Autobahn fliegt sie über Burgen, Berge und Schluchten. Sie sitzt auf ihrem Besen und fliegt über Schloss Wernigerode.
Und dann sieht man sie, wie sie mit ihrem Hexenhut über das Bodetal saust. In den Städten rund um den Brocken sind die Läden, Bars und Restaurants nach ihr benannt. Sie ist ein Marketingspektakel, die Brockenhexe: Im „Hexentreff“ oder im „Hexenkessel“ kann man einen „Hexenteller“ oder in einer Bäckerei einen „Hexen-Strietzel“ bestellen.
Wer auf den Berg in Thale mit der Seilbahn fährt, kann Hexengolf spielen, in der Walpurgishalle über die Hexensage lernen und auf dem Hexentanzplatz ein Hexenhaus besuchen. Und wer in der Walpurgisnacht dorthin fährt, der kann mit sämtlichen „echten“ Hexen tanzen.
In Thale tanzen die Hexen zu Schlagermusik der besten Schlager-Boy-Band Deutschlands, wie der Moderator sagt. Anderenorts, in Schierke und Wernigerode, tanzen die Hexen zu mittelalterlicher Musik, umgeben von mittelalterlichen Märkten oder von den mit Lichterketten und Fackeln geschmückten Mauern des Schlosses Wernigerode. „Walpurgis ist für uns im Harz ein Volksfest“, sagt Carola Schmidt.
In der Nacht zum 1. Mai finden überall Feste statt, rund 16 große Feste waren es dieses Jahr. „Es gibt aber in nahezu jeder Ortschaft hier eine kleine Walpurgis, und jeder Ort lässt sich was Eigenes einfallen.“ Und die Hexensage wirkt: sie lockt BesucherInnen an, der Einzelhandel im Harz boomt.
Als ich auf dem Blocksberg stehe und bei Sonnenuntergang über Thale blicke, auf die dramatisch spitzen Felsen des Berges hinausschaue, fällt es mir nicht schwer zu verstehen, warum Goethe diesen Ort als Schauplatz der Walpurgisnacht gewählt hat.
Germanische Mythologie
Unten in Thale angekommen gehe ich am Fluss Bode entlang und biege rechts über die Brücke ab, Richtung Stadtkern. Aber so weit komme ich gar nicht, denn meine Aufmerksamkeit wird von der Statue des kleinen, bärtigen Mannes mit Eisen und Schlägel abgelenkt. Ein Bergmönch.
„Die in zahlreichen Harzsagen vorkommenden Bergmönche sind nahe Verwandte der auch in der germanischen Mythologie schon bekannten Zwerge“, heißt es auf der goldenen Plakette neben dem kleinen Mann. Im Harz gibt es eine 1.000-jährige Geschichte des Bergbaus, das Bergwerk Rammelsburg bei Goslar ist Weltkulturerbe.
In einem solchen Höhlensystem entstanden wie auch anderenorts Erzählungen über Zwerge – aber der Bergmönch, der ist nur im Sagenharz zu finden, in der unterirdischen Welt der Bergarbeiter. Der Sage nach ist der Bergmönch ein Bergmeister, der durch seine Liebe zum Bergbau die Götter darum bat, ihn für immer in den Bergen leben zu lassen. Die Bergleute trafen ihn manchmal bei der Arbeit, er erschien ihnen mal als Mönch verkleidet, mal als Bergmeister, mal hilft er ihnen, mal spielt er ihnen Streiche. Die Ewigkeit ist ganz schön lang – manchmal muss man eben auch Späßchen machen.
Dann ist da noch Frau Holle. Das ist nicht die Frau Holle aus den Märchen der Brüder Grimm, sondern eine gottesähnliche Gestalt, die im Wald in den Bergen wohnt und unartige Kinder zu sich holt, um sie zu erziehen. In manchen Sagen sagt man, dass sie aus einem Teich kommt und dass sie im Teich die Kinder behält, die nicht erziehbar waren. Sie wird aber auch als Verantwortliche für Natur und Naturwunder im Harz gesehen – am Oderteich ist ihr Gesicht in einem Baumstamm zu sehen, aus dem sie weinend hinausblickt.
Hier erfährt man eine andere Erzählung über Frau Holle: Sie liebte einen Mann namens Odin. „Als er starb, verbrachte seine Seele alle Zeit mit Frau Holle, sodass diese ihre Arbeit arg vernachlässigte“, erzählt das Schild neben der Holzfigur. „Gott, der das ungleiche Bündnis nicht guthieß, verfluchte die Seele Odins dazu, ruhelos umherzuirren: von Berg zu Tal, hinauf gen Himmel und wieder zum Berge hinab.“ Die Tränen der Frau Holle, die Gott um Erbarmung bittet, fließen in den Oderbruch, und sammeln sich im Oderteich. Wer die Tränen der Frau Holle fängt, wird angeblich sehen, dass sie sich in Perlen verwandeln.
Die „Harzkamele“
Wer auf dieser Etappe ab Osterode auf den Hexen-Stieg geht, begegnet den Kiepenfrauen: Eine geschnitzte Holzfigur sitzt auf einem Baustamm und ruht sich aus, auf ihrem Rücken trägt sie eine Kiepe. Daneben ist eine zweite Kiepe. Auf einem Schild werden Wanderer dazu aufgefordert, sie anzuheben. 30 oder 40 Kilo ist sie schwer, so schwer, wie diese Frauen damals sie über den Brocken trugen.
„Es waren im Wesentlichen Frauen, die den Oberharz versorgten. Die Männer waren anderswo arbeiten, in der Forst oder im Bergbau“, erzählt Carola Schmidt. Obst, Gemüse, Stoffe, Gewürze sowie Briefe trugen die Kiepenfrauen, auch „Harzkamele“ genannt, über den Berg. „Alles was man zum Leben eben braucht.“ Was haben sie erlebt, worüber haben sie unterwegs gesprochen? Haben sie sich auch diese Geschichten und Sagen erzählt?
Wer sich ein Theaterstück im Bergtheater Thale auf dem Hexentanzplatz anschaut, wird erkennen, dass hier der perfekte Schauplatz für eine dunkle, aufregende und mystische Erzählung wie der „Faust“ist. Als ich den Harz wieder verlasse, ist es so, als ob ich eine Parallelwelt verlasse. Eine Welt, in der es Geister und Zwerge gibt. Auf der Autobahn verabschiede ich mich von der Brockenhexe. Nach drei Tagen im Sagenharz werde ich nach Berlin zurückkehren und mich fühlen, als ob ich ein Geheimnis gelüftet habe.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Angriffe auf Neonazis in Budapest
Ungarn liefert weiteres Mitglied um Lina E. aus
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Mangelnde Wirtschaftlichkeit
Pumpspeicher kommt doch nicht