Säureattentate in Kolumbien: Gezeichnet fürs Leben

Säureattentate sind in Kolumbien ein verdrängtes Phänomen. Eine Selbsthilfeorganisation in Bogotá kämpft gegen diese Ignoranz.

Zwei von Säureattentaten gezeichnete Frauen vor einem Plakat, das Säureopfer zeigt.

„Eine Narbe macht dich nicht zu weniger Frau“ – Gina Potes (l.) und Nubia Espitia vor einem Plakat mit Frauen, die den Mut hatten, sich trotz Narben fotografieren zu lassen Foto: Knut Henkel

Bogotá taz | Auf der Baustelle gegenüber heult eine Flex auf. Entnervt rollt Gina Potes mit den Augen, steht auf und schließt das Fenster. Dann setzt sie sich wieder an den kleinen Schreibtisch, um den Post für die Facebook-Seite von „Reconstruyendo Rostros“ zu beenden. „Wiederherstellen von Gesichtern“ heißt das sinngemäß, und es ist der Name der Selbsthilfeorganisation, die Gina Potes gegründet hat, um Opfern von Säureattentaten Hilfe anzubieten. „Wir beraten, vermitteln, helfen. Holen Frauen wie Männer aus der Isolation und der Einsamkeit heraus, denn dahin treiben sie die Verletzungen oftmals.“

Die 38-Jährige kennt die Depressionen, die Schmerzen, die Hilf- und Hoffnungslosigkeit, die Säureangriffen folgen. Die schlanke Frau mit den optimistisch funkelnden braunen Augen und der dichten, halblangen Mähne hat das alles selbst durchgemacht.

Am 28. Oktober 1996 gegen 19 Uhr war es. Gina, damals gerade zwanzig Jahre alt, bereitete das Abendessen im der Küche ihres Elternhauses vor, während ihr dreijähriger Sohn Andrés spielte. Es klopfte an der Tür. Als sie ahnungslos öffnete, schleuderte ihr ein Mann mit den Worten „So schön wie du darf niemand sein“ Schwefelsäure ins Gesicht.

„Es waren bestialische Schmerzen. Ich hatte das Gefühl, die Säure schneidet mir die Haut aus meinem Gesicht, fühlte, wie meine Gesichtszüge ins Rutschen kamen“, erinnert sie sich und macht eine wegwischende Handbewegung, wie um die Erinnerung zu vertreiben. Doch mit der muss sie leben, und das weiß Gina Potes nur zu gut. Was sie nicht weiß ist, wer ihr das angetan hat, wer dafür verantwortlich ist, dass sie nun mit den Narben wird leben müssen? Den äußeren sichtbaren und jenen, die sie in sich trägt.

Gina Potes

„Obwohl ich die Tat angezeigt habe, ist die Polizei nie aktiv geworden.“

Mehr als einen entfernten Verdacht hat sie nicht, und an jenem 28. Oktober 1996 wurde erst gar nicht ermittelt. „Obwohl ich die Tat angezeigt und auch immer wieder nachgefragt habe, ist die Polizei nie aktiv geworden“, kritisiert sie und legt unwirsch die Stirn in Falten. Der Fall sei wie viele andere auch zu den Akten gelegt worden, sagt sie und streicht sich zwei Strähnen aus der Stirn. Dabei rutscht ein Ärmel der roten Bluse nach oben und gibt mehrere wulstige Narben am Unterarm frei. Auch am Hals und rund um das Kinn sind Narben und hellere Hautpartien von den Transplantaten zu sehen.

Ärzte gaben ihr das Gesicht zurück

25 Operationen in 16 Jahren hat Gina Potes über sich ergehen lassen, und die Chirurgen haben ganze Arbeit geleistet. Sie haben der energischen, lebenslustigen Frau ihr Gesicht zurückgegeben – oder zumindest einen Teil davon. 80 Prozent schätzt sie. Anders als viele ihrer LeidensgenossInnen wird Gina Potes im Bus nicht scheel angesehen oder gar als Monster, wenn sie zum Hospital Simón Bolívar fährt, der einzigen Klinik Kolumbiens für Brand- und Säureopfer.

„Anderen Frauen geht es so“, sagt sie mit bitterer Mine. „Frauen, die ein Auge oder ein Ohr verloren haben, die sich nur noch mit einer Maske auf die Straße trauen, weil sie sich die Operationen nicht leisten können“, schildert sie Fälle, die sie allesamt persönlich kennt. Schicksale wie jenes von Viviana Hernández. Deren Exmann hat das Säureattentat, das sie auf dem linken Auge erblinden ließ, in Auftrag gegeben, weil sie sich getrennt hatte.

Kein Einzelfall. Das Motto, wenn ich sie nicht haben kann, soll sie auch kein anderer haben, scheint viele Männer anzutreiben. „Wir leben in einer zutiefst patriarchalen Gesellschaft. Hier werden Frauen gern als Trophäen betrachtet, als Objekt. Ich bin aber ein Subjekt, habe Rechte, die ich einfordere“, betont sie. Sie spricht schnell, ist erregt, weiß, dass sie auch für andere spricht. Für Alva zum Beispiel, die aus dem Gefängnis von ihrem Exmann – per Telefon – bedroht wird. Alva führt ein Leben in ständiger Angst davor, dass sich der Säureangriff wiederholen könnte.

Viele Frauen machen ähnliches durch

Alva, ihre Assistentin Patricia Nubia oder Angie Guevara sind Frauen, die Gina Potes im Laufe der letzten Jahre kennengelernt hat. Erst durch sie ist ihr bewusst geworden, dass es viele Frauen gibt, die Ähnliches durchmachen wie sie. Da war der Punkt erreicht, wo sie sagte: „Genug. Von allein hört das nicht auf. Wir müssen selbst aktiv werden.“ Das war 2012. Damals erschienen die ersten Artikel, weil immer mehr Fälle registriert wurden. Rund 1.000 Fälle von Verätzungen und Verbrennungen mit Chemikalien hat die Gerichtsmedizin zwischen 2004 und dem Frühjahr 2015 registriert.

Davon sind Männer fast genauso stark betroffen wie Frauen. Nur einen elementaren Unterschied gibt es. „Während bei Männern Verätzungen fast immer im Kontext von Raubdelikten an Armen und Beine auftreten, ist bei Frauen fast immer das Gesicht betroffen“, erzählt Gina Potes. Das belegen auch die Unterlagen der Station für Brandopfer vom Krankenhaus Simón Bolívar. Dort, im reichen Norden Bogotás, in der 164. Straße, wurde Gina Potes genauso behandelt wie Patricia Nubia Espitia. Die hat bereits 28 Operationen hinter sich und wird noch etliche benötigen, bis die Augenpartie und die Nase rekonstruiert sind. Operationen, die die Krankenkasse eigentlich zahlen müsste, denn dazu ist sie gesetzlich seit 2013 verpflichtet.

Doch in der Realität müssen viele Säureopfer die Bezahlung von jeder einzelnen Operation einklagen. Unwürdig ist das in den Augen von Gina Potes, der nicht eine ihrer 25 Operationen bezahlt wurde. Bei ihr ist die Familie eingesprungen und später hat sie Geld als Textildesignerin verdient. Dazu sind die meisten der Opfer, die oft aus dem armen Süden Bogotás stammen, nicht in der Lage. „Da fehlt es manchmal schon am Kleingeld für die Fahrt zum Krankenhaus“, schildert Gina Potes die Situation vieler ihrer rund 45 Mitstreiter, unter ihnen fünf Männer.

Mit Narben vor die Kamera treten

Sie treffen sich regelmäßig in dem kleinen Büro in der 72. Straße im Süden der kolumbianischen Hauptstadt. Das befindet sich Tür an Tür mit der Wohnung, wo die alleinerziehende Mutter mit ihren drei Kindern lebt. Drei Stühle, zwei Computer und zwei Räume, das ist alles, was die kleine Stiftung zur Verfügung hat. In dem einen Raum steht der Computer, von wo aus die Facebook-Seite und die Webseite mit frischen Posts aktualisiert wird; in dem anderen hängen die großen Plakate, mit denen die Stiftung Öffentlichkeitsarbeit macht. Professionelle Fotos von Modefotografen, die ein Shooting mit Gina und dem knappen Dutzend Frauen machten, die den Mut aufbrachten, vor der Kamera zu posieren.

So sind Bilder von Frauen entstanden, die für ihr Rechte kämpfen, die ihr Leben von ihren Peinigern zurückerobern wollen und die den kolumbianischen Staat in die Pflicht nehmen. „Eine Narbe macht dich nicht zu weniger Frau“ ist eine der Parolen, die Patricia Nubia Espitia und Gina Potes ersonnen haben.

1.002 Fälle von Verätzungen und Verbrennungen durch Klebstoff, Gas, Öl, Strom oder Säure wurden in Kolumbien zwischen 2004 und dem März 2015 laut der Gerichtsmedizin registriert. Die Dunkelziffer ist jedoch hoch, und die Gerichtsmediziner verweisen ausdrücklich darauf, dass ihre Statistik nur Fälle enthält, in denen von den Behörden ermittelt wird.

Andere Zahlen legt beispielsweise die Stadtverwaltung von Bogotá vor: So habe es 2012 167 Fälle von Säureverletzungen in der Neun-Millionen-Stadt gegeben. Im Folgejahr waren es 67 und 2014 wurden 27 Fälle registriert. Dabei berufen sich die Gesundheitsexperten der Stadt auf ein Meldesystem der Krankenhäuser.

Fakt ist, dass die Dunkelziffer bei Säureanschlägen sehr hoch ist. Richtig ist aber auch, das die Anschlagszahlen zurückgehen. So hat es bis Anfang Mai in der Hauptstadt Bogotá erst einen registrierten Säureanschlag gegeben. (hk)

Sie drängen die Politik, aktiv zu werden. Zumindest auf dem Papier ist nun die Gesundheitsversorgung der Opfer von Säureanschlägen garantiert. Nächstes Ziel ist es, auch zu härteren Strafen für die Täter zu kommen. In erster Lesung passierte dazu Anfang Mai ein Gesetz das Parlament, welches die Strafen auf bis zu 50 Jahre anhebt – je nach Schwere der Verletzungen. Bis Ende des Jahres sollen auch die beiden noch ausstehenden Lesungen stattfinden, dadurch soll die Zahl der Säureattentate endlich sinken.

Respekt, Bildung, Inklusion

Doch dafür bedarf es mehr als nur der Strafandrohung. „Wir müssen wieder lernen, den anderen und die andere zu respektieren, müssen mehr Wert auf Bildung, auf Inklusion statt Exklusion legen“, fordert Gina Potes. Ihr ganz persönlicher Antrieb dabei ist ihre elfjährige Tochter. Der will sie ein besseres Leben in einer friedlicheren Gesellschaft ermöglichen und deshalb soll „Reconstruyendo Rostros“ auch wachsen.

Aus dem kleinen Büro in der 72. Straße, soll über kurz oder lang eine Anlaufstation mit Rechtsberatung und angeschlossener Herberge werden. Zukunftspläne, für die derzeit noch kein Geld zur Verfügung steht. Aber erst mal geht darum, das Gesetz durch das Parlament zu bringen. Zur nächsten Lesung werden Gina, Patricia Nubia und ihre Mitstreiterinnen wieder ihre Transparente im Plenarsaal entrollen. Dann wird wieder die Parole „Wir sind nicht Teil des Problems, sondern der Lösung“, in dicken Lettern zu lesen sein. Ein Satz, den Gina heute mindestens ein halbes Dutzend mal in den Mund genommen hat – gerade weil der Machismo in Kolumbien so prägnant ist.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.