Sämtliche Parteien unterschätzen Netzpolitik: „Netzpolitik wird immer wichtiger“
Netzpolitische Fragen thematisieren gesellschaftliche Konflikte. Doch selbst die Piraten gewinnen mit dem Thema nicht genug Wähler, meint Parteienforscher Oskar Niedermayer.
Ist Netzpolitik das Politikfeld der Zukunft?
Netzpolitik wird noch wichtiger werden, als sie es jetzt schon ist. Das zentrale Thema wird sie aber auch in der näheren Zukunft nur für einen Teil der Wählerschaft sein. Im Mittelpunkt steht der Konflikt zwischen einem extremen Freiheitsbedürfnis und dem Regulierungsanspruch des Staates in dieser neuen digitalen Sphäre. Das ist ein Grundkonflikt, der aber für große Teile der Bevölkerung noch nicht so relevant ist, als dass er die Gesellschaft spalten würde.
Ist das Internet also immer noch ein Nischenthema?
Nein, aber netzpolitische Fragen sind nicht wahlentscheidend.
Wann wird es ein Netzministerium geben?
Sobald nicht. Die existierende Ressortaufteilung ist sehr beharrlich.
59, ist Professor der Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin und leitet dort das Otto-Stammer-Zentrum. Schwerpunkte seiner Forschung sind politische Einstellungen und Verhaltensweisen, Parteien und Wahlen.
Muss Netzpolitik stärker in die existierenden Ressorts integriert werden?
Eindeutig. Es gibt permanent nationale und internationale Netzthemen, wie Acta oder die EU-Richtlinien zur Vorratsdatenspeicherung. Die Frage ist, ob diese Themen als gesellschaftliche Konflikte kenntlich gemacht werden können, so dass eine Partei damit tatsächlich auch groß werden kann.
...die Piraten?
Am Anfang war Netzpolitik das einzige und zentrale Thema der Piraten. Wahlerfolge haben sie aber nicht mit diesem Thema eingefahren. Für sie ist Netzpolitik vor allem wichtig, weil sie einen Gründungsmythos darstellt. Außerdem mobilisiert sie die Kernwähler, die Digital Natives. Die machen bei Wahlen aber nur etwa zwei Prozent aus.
Woran sehen Sie, wie wichtig Netzpolitik tatsächlich für die Piraten ist?
Zum Beispiel an den letzten Bundestags- und Europawahlen. Da war das Internet noch das einzige Thema der Piraten, entsprechend sind die Ergebnisse ausgefallen.
Womit machen sie dann Stimmen?
Sie versprechen eine neue Art von Politik, damit ziehen sie Randwähler von allen Parteien ab. In den Landtagswahlkämpfen war Netzpolitik eines unter vielen Themen. Entscheidend war, dass sie Partizipation und Transparenz als neue Werte in die politische Diskussion eingeführt haben.
Partizipation und Transparenz sind doch Verheißungen des Internets.
Natürlich. Aber sie bilden auch eine übergreifende Wertebasis und können nicht auf ein spezifisches Thema reduziert werden.
Mit wem werden die Piraten einmal koalieren?
Die inhaltlichen Schnittmengen sind eindeutig mit den Grünen am größten. Da gibt es einige Anknüpfungspunkte, wenn die Piraten mal koalitionsfähig sein sollten. Am schwierigsten wird es mit der CDU, die hat ja gerade überhaupt erst einen eigenen Arbeitskreis zur Netzpolitik gegründet.
Sind die Piraten eine linke Partei?
Das eindimensionale Links-Rechts-Spektrum ist ein Trugbild. Es gibt mindestens zwei zentrale Konfliktlinien, auf denen man die Parteien einordnen kann. Zum einen gibt es die sozialökonomische Frage. Da ist die Positionierung der Piraten traditionell schwammig. Ich würde sie etwas links von der Mitte verorten, mehr in Richtung Sozialstaatswohl, als in Richtung Marktfreiheit und Neoliberalismus. Man denke an das bedingungslose Grundeinkommen.
Allerdings ist es für die Piraten selbst nicht unbedingt ratsam, sich als Sozialstaatspartei zu definieren. Denn in diesem Bereich hätten sie wegen der SPD und der Linken kein Alleinstellungsmerkmal. Die Dimension soziale Gerechtigkeit kann den Piraten schaden.
Was ist die zweite Konfliktlinie?
Die gesellschaftspolitische, die zwischen autoritären und libertären Wertvorstellungen verläuft. Schon jetzt kann man sagen, dass die Piraten die Grünen am libertären Pol ablösen. Schon allein, weil die Grünen hier ein bisschen zu sehr in die Mitte gerückt sind. Durch ihren extremen Freiheitsbegriff ist der gesellschaftspolitische Standort der Piraten relativ klar definiert. Wenn sie diesen Platz ausbauen und geschickt agieren, können sie sich durchaus Alleinstellungsmerkmale schaffen, die ihnen einen dauerhaften Platz im Parteiensystem sichern.
Sind die Piraten also schon jetzt Teil des Systems?
Sie sind keine Antisystem-Partei, wie die NPD, oder – nach Auffassung mancher – die Linke. Die Piraten wollen das bestehende System reformieren, mit einer neuen Art der Politik und anderen Verfahrensweisen.
Wird ihnen das gelingen?
Es wird schwierig. Die Partei darf ihr Selbstverständnis als Transparenz- und Teilhabepartei nicht aufgeben, um relevant zu bleiben. Dieses Selbstverständnis widerspricht aber den Erfordernissen der repräsentativen Demokratie. Ein Beispiel: die Basisbezogenheit. Es ist wunderschön, die Basis in alle politischen Entscheidungen einbeziehen zu wollen. Das klappt aber schon aus technischen Gründen nicht: Wir wissen, dass bislang nur ein Viertel der Mitglieder bislang Liquid Feedback nutzen können.
Dann brauchen sie nur bessere Software?
Nein, viel wichtiger ist das Legitimationsproblem: Im Berliner Abgeordnetenhaus hat die Piraten-Fraktion bislang alle Anträge ins Netz gestellt und sie von den Mitgliedern diskutieren lassen. Wenn ein klarer Basiswille erkennbar war, hat die Fraktion den übernommen und im Parlament entsprechend abgestimmt. Je länger die Partei aber im Parlament vertreten ist, desto größer wird der Informationsvorsprung der Fraktion gegenüber den Basismitgliedern.
Irgendwann wird der Moment kommen, wo die Fraktion sagt: auf Grundlage dessen, was wir wissen, müssen wir eine bestimmte Entscheidung treffen. Wenn sie dann die Basis nicht überzeugen können, stehen sich zwei Legitimationsgrundlagen gegenüber: auf der einen Seite die Parlamentarier, die mit einem freien Mandat ausgestattet sind.
Auf der anderen Seite steht das Basisprinzip, das so hochgehalten wird. Wenn die beiden Legitimationsgrundlagen aufeinanderkrachen, muss die Partei diskutieren, was sie höher bewerten will. Die Herausforderung wird es sein, sich den Spielregeln der Parteiendemokratie anzupassen, ohne das Image des „Andersseins“ zu verlieren.
Was haben die etablierten Parteien bisher von den Piraten gelernt?
Netzpolitisch haben sie reagiert, das ist nur noch nicht überall nach außen gedrungen. Alle Parteien außer die FDP haben netzpolitische Grundsatzbeschlüsse gefasst. Im Bezug auf Transparenz und Beteiligung liegt allerdings noch einiges im Argen, da wird es sehr viel schwieriger.
Trotzdem rennen Netzpolitiker in den alten Parteien oft noch gegen die Wand. Wird das Thema ernst genug genommen?
Das hängt von der Partei ab. In der SPD rennen die Netzpolitiker mal gegen Beton, mal gegen Gummi. Bei den Grünen wird das Thema momentan stark hochgezogen. Die FDP sieht keinen Handlungsbedarf, weil sie meint, die eigentliche Netzpartei zu sein von der die anderen nur abkupfern. Bei der CDU ist es am schwierigsten: Das ist eine Partei, die einen Großteil ihrer Wählerschaft aus der Gruppe 60 und älter rekrutiert. Für die ist das Netz kein relevantes Thema, Punkt.
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