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Sächsisches Manchester heißt nun wieder Chemnitz

■ „Karl-Marx-Stadt“ ist mega-out/ Der „Nischel“ bleibt vorläufig

Chemnitz. Für die meisten Einwohner ist es schon wieder zur Gewohnheit geworden, was jetzt offiziell gilt: Chemnitz hat seinen alten Namen wieder. Unter diesem war das „sächsische Manchester“ einst in aller Welt bekannt geworden. Die einjährige Galgenfrist für „Karl-Marx- Stadt“ als noch mögliche Stadtbezeichnung ist abgelaufen.

Vor Jahresfrist hatten 65 der 76 Abgeordneten des Parlaments für die Rückbenennung in Chemnitz gestimmt und sich damit für jenen Namen entschieden, den die 300.000 Einwohner zählende Kommune bis 1953 trug. Für eine Übergangszeit von zwölf Monaten konnten jedoch beide Namen weiter verwendet werden, hieß es damals im Beschlußtext. Vorausgegangen war ein Bürgervotum im Frühjahr 1990, bei dem mehr als 191.000 von 251.962 Stimmberechtigten den tiefsitzenden „Chemnitzer“ in sich fühlten.

Damit erhielt der Namenswechsel seine demokratische Legitimation, ganz im Unterschied zu 1953, als die Mehrheit der Bevölkerung von der „Auszeichnung mit dem Ehrennamen“ durch das damalige ZK der SED erst Ende April erfahren hatte. Wenige Tage später, ab 10. Mai, hießen dann Stadt und Bezirk Karl- Marx-Stadt.

Was dem einen der Name, ist dem andern die Mark: Die Zünfte der Schildermacher und Drucker hatten im Laufe des vergangenen Jahres Hochkonjunktur. Kaum noch ein Autobahnwegweiser, ein Bahnhofsschild, Firmen- und Zeitungstitel, ein Stadtplan, Landkarten und Briefbögen, die noch nicht geändert worden wären.

Doch auch jede Menge Straßenschilder werden benötigt, denn ganz Eifrige drängelten seither unaufhörlich auf Umbenennung. So beschloß dann das reformwillige Stadtparlament am 26. September 1990 auch, Straßen umzubenennen. Für die ersten 36 war drei Monate später de facto Namenswechsel angesagt. Aus der Karl-Marx-Allee wurde die Brückenstraße, Friedrich-Engels- und Ernst-Thälmann- mußten zugunsten von Fürsten- beziehungsweise Reitbahn-Straße weichen.

Aber ganz so zügig geht es gegenwärtig beim Zurück nicht mehr voran. 81 weitere Umbenennungsideen sind von einer eigens gebildeten Sonderkommission des Stadtparlamentes zu prüfen, nachdem in der Bevölkerung heftige Diskussionen entbrannt waren. Mehr und mehr Realisten meldeten sich vor dem Hintergrund vieler dringend zu lösender Aufgaben in der Industriestadt zu Wort und stellten neben der Kosten- auch die Frage nach dem Sinn, beispielsweise deutsche Humanisten von den blauen Schildern zu „verbannen“.

Behalten hat seinen Platz gegenwärtig noch die bronzene Karl- Marx-Plastik im Stadtzentrum. Über die Zukunft des „Nischels“, so sein eher freundliches denn abwertendes sächsisches Synonym, wird noch zu befinden sein. Schon jetzt deutet sich aber an, daß er als ein Stück Geschichte auch weiterhin seine Berechtigung haben könnte.

Ganz auslöschen lassen sich die 27 Jahre Karl-Marx-Stadt ohnehin nicht. Denn nicht nur in Chroniken wird der Name immer wieder auftauchen. Auch wer beispielsweise in dieser Zeit dort geboren wurde, die Schule besucht oder geheiratet hat, wird für immer Karl-Marx-Stadt schreiben, selbst wenn längst wieder alle Welt von Chemnitz spricht. Thomas Rost/ adn

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