Sachbuch über Süd-Nord-Weltordnung: So finster, so hell
Die Wirtschaft zwischen China und Afrika floriert, der Westen kommt kaum noch vor. Andrea Böhm stellt die westliche Weltordnung auf den Kopf.
Der venezianischen Kartograph Frater Mauro entwarf 1459 eine Karte, die die Welt kühl und empirisch wiedergab – so wie man sie nun sah, also nicht mit Jerusalem oder dem Paradies im Zentrum. Diese mappa mundi ist, wie damals üblich, gesüdet: Afrika oben, Europa unten. Der heutige Blick auf diese Karte führt vor Augen, dass unser Bild des Globus – wir oben, Peripherie unten – nur eine Konvention ist.
Mauro versah zudem die Orte mit Geschichten – von der Ostsee bis zum sagenhaften Abessinien, wo Milch und Honig flossen und Städten in China, in denen es 6.000 Brücken gab. Am Beginn der modernen Kartographie leuchtete das Bewusstsein, dass Geographie eine Erzählung ist, die Geschichte und Machtverhältnisse abbildet. Dass die Bilder der Welt die Weltbilder ihrer Zeichner spiegeln.
Die Publizistin Andrea Böhm nutzt diese mappa mundi als Reiseführer, um die Krise des Westens mit gesüdetem Blick in Augenschein zu nehmen. Also nicht von Brüssel und Washington aus, sondern von den Rändern, dem von Warlords beherrschten Somalia und Libyen, dem vom Krieg zerfressenen Bagdad, dem aufstrebenden China. Sie trifft einen 25-Jährigen in Bagdad, der von Kindesbeinen an nur Saddams Gewaltregime und Bombenterror kennt, und unverdrossen Marathonläufe organisiert. Ein Menschenrechtsaktivist in Gaza veröffentlicht, was weder Hamas noch Israel passt. Eine Achtzigjährige betreibt in Ostafrika ein Kinderkrankenhaus. Die Figuren sind meist mit robuster Zivilcourage ausgestattet. Keine Opfer, die beifälliges Mitleid verdienen, eher Charaktere, neben denen unsereins eher mutlos wirken würde.
Eine der schillerndsten Figuren ist der Senegalese Pape Mass, der seit zehn Jahren in der chinesischen Messemetropole Guanzhong schwunghaften Handel mit Billigwaren betreibt. „Er exportiert in alle Welt, hauptsächlich aber nach Afrika. Journalisten wie ich sehen dort vor allem Kriege und Krisen. Pape Mass sieht eine wachsende Mittelschicht und Kenianer, die ihr Badezimmer fliesen wollen, Ivorer, die Mischbatterien bestellen“, so Böhm. Ein paar zehntausend Afrikaner leben in „Little Africa“ in Guanzhong, kalt verachtet von den Chinesen. Sie verkaufen und ordern. Das Geschäft wächst. Der Westen kommt in dieser Weltwirtschaft von unten kaum mehr vor.
All das wird lakonisch berichtet, nichts soll bewiesen oder widerlegt werden. In den besten Moment klingt der Text fast wie eine Erzählung von Raymond Carver. Die Welt ist finster und hell.
Debakel in Somalia
Das Zentralstück dieses Textes, der leichthändig Reportage und historische Reflexion verwebt, beleuchtet Somalia. In der Hauptstadt Mogadischu verüben Islamisten Terroranschläge, Klans bekriegen sich. In Krankenhäusern sterben Kinder an Hunger. „Ich hasse solche Inspektionen des Elends, hasse mein hilfloses Starren auf geschwollene Kinderbäuche und marschiere hinter dem Doktor her wie hinter einem Schutzschild“, notiert die Autorin.
Anteil an dem endlosen Zirkel von Gewalt, Korruption, Hunger haben die USA, die im Dezember 1992 mit Marines in dem failed state für Ordnung sorgen wollten. Es sollte ein gut gemeintes Fanal der militärischen und moralischen Überlegenheit des Westens werden und wurde ein Debakel. US-Militär und UN-Bürokratie agierten mit jener Mixtur von Hybris und Ahnungslosigkeit, die alles schlimmer machte. Am Ende verließen USA und UN ein noch mehr von Gewalt zerfurchtes Land. Somalia war die Blaupause für die Kriege in Irak und Afghanistan.
Von dort führt die Reise in den Norden. Somaliland, groß wie Griechenland, ist von keinem Staat weltweit anerkannt, aber trotzdem ein halbwegs funktionierendes Gemeinwesen. Warum? „Anders als Somalia erfuhr Somaliland so gut wie keine internationale Hilfe und Einmischung“, sagt Böhm. Ohne Kredite, Marines und vom Westen unterstützte Machtgruppen fiel die Einigung auf eine paar Basisregeln offenbar leichter.
Diese seltsame, auf keiner Karte verzeichnete Republik entspricht nicht dem Kanon westlicher Demokratien, mit Rechtsstaat und Gewaltenteilung. Die Verfassung ist islamisch geprägt, die Justiz eine Mixtur aus modernem Recht und örtlichen Traditionen. Das für defizitär zu halten, für die Abweichung von der westlichen Norm, ist womöglich das verblassende Dogma von gestern. „Vielleicht“, schreibt Böhm, „stehe ich in Hargeisa mitten in einem Zukunftsentwurf: Ein Kollektiv von Menschen mit ausgeprägter nationaler und Klan-Identität. Flexibel, an Schocks von außen und Umbrüche von innen gewöhnt, bestens vertraut mit neuesten Kommunikationstechnologien. Ein hybrides Gebilde in Zeiten, da sich die Macht über Geld- und Warenströme immer weiter von der Politik traditioneller Nationalstaaten entfernt. Das funktioniert seit über 20 Jahren erstaunlich gut.“
Andrea Böhm: Das Ende der westlichen Weltordnung. Eine Erkundung auf vier Kontinenten. Pantheon Verlag, München 2017. 272 S., 17 Euro
Zu den Zeiten des Frater Mauro war Mogadischu eine vitale, multikulturelle, reiche Handelsmetropole, das Pendant zu Venedig. Der Rückgriff auf dessen fast 500 Jahre alte Texte öffnet einen historischen Echoraum, der die Grundmelodie des Textes verstärkt. Nichts bleibt, wie es war. Die Karten werden neu justiert, übermalt, gedreht. Unser Weltbild – mit dem Westen als Zentrum von Moral, Macht und Geschichte – ist eine Konstruktion, deren Selbstverständlichkeit zu verschwinden beginnt. Das sieht man von den Marktplätzen in Hargeisa in Somaliland oder den Exportläden in Little Africa schärfer als von anderswo.
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