SPD-Experte Lauterbach über Kinder-Hartz-IV: "211 Euro pro Kind sind zu wenig"
Die Hartz-IV-Vorschriften für Kinder sind laut Bundessozialgericht verfassungswidrig. Obwohl die SPD genau diesen Regelsatz erfunden hat, begrüßt ihr Sozialexperte Karl Lauterbach das Urteil.
taz: Herr Lauterbach, nach Ansicht des Bundessozialgerichts verstößt der derzeitige Hartz-IV-Satz für Kinder unter 14 Jahren gegen das Grundgesetz. Dieses Urteil muss für die SPD eine schallende Ohrfeige gewesen sein.
Karl Lauterbach: Das wars sicherlich nicht. Im Gegenteil: Ich begrüße dieses Urteil. Ich habe auch schon vor der Urteilsverkündung immer wieder kritisiert, dass die Bedarfssätze für die Kinderberechnung nicht geschätzt werden dürfen. Ich halte eine solche Vorgehensweise für falsch, willkürlich einen Prozentsatz festzusetzen. Und diese 211 Euro pro Kind sind auf jeden Fall zu wenig. Auf Initiative der SPD ist eine entsprechende Berechnung für dieses Jahr auch längst vorgesehen. Zudem haben wir uns in den vergangenen Monaten im Rahmen der Verhandlungen um das Konjunkturpaket II bereits gegen die Union durchsetzen können. Zumindest für die Altersgruppe der 6- bis 13-Jährigen werden die Sätze entsprechend um 10 Prozent erhöht.
Das sind ganze 25 Euro mehr.
Ich persönlich glaube auch, dass das nicht ausreichen wird. Aber mit der Union waren selbst diese 10 Prozent nur gegen erheblichen Widerstand durchsetzbar. Wenn wir jetzt ohne Koalitionspartner regieren könnten, würde der Satz sicherlich höher ausfallen.
Hartz IV wurde unter einer rot-grünen Bundesregierung beschlossen.
Mich interessieren nicht die Fehler vergangener Regierungen. Fakt ist, dass wir bei allen sozialpolitischen Verbesserungen bei unserem derzeitigen Koalitionspartner immer wieder auf erbitterten Widerstand stoßen.
Nun hat das Bundessozialgericht die Politik aufgefordert, den Bedarf von Kindern detailliert zu berechnen. Wie wird die große Koalition konkret vorgehen?
Bislang bekommen Kinder bis einschließlich 13 Jahren nur 60 Prozent der Regelleistung eines erwachsenen, alleinstehenden Hartz-IV-Empfängers. Das sind 211 Euro im Monat. Nach einer Entscheidung des Bundessozialgerichts vom Dienstag ist dieser Hartz-IV-Satz für Kinder jedoch verfassungswidrig.
Es könne nicht sein, dass einem 13-Jährigen genauso wenig zusteht wie einem Neugeborenen, argumentierten die Richter. Die Bundesregierung sieht dennoch keinen Handlungsbedarf. Sie verweist auf das zweite Konjunkturpaket. Damit soll ab Juli der Satz auf 246 Euro steigen - 25 Euro mehr.
KARL LAUTERBACH, 45, ist Professor für Gesundheitsökonomie und Sozialexperte der SPD. Seit 2005 sitzt er im Bundestag.
Bisher war es so, dass zwar der Bedarf für Erwachsene ermittelt wurde, für Kinder galt willkürlich aber nur ein Prozentsatz in Höhe von 60 Prozent. Nun ist vorgesehen, dass wir den Bedarf von Kindern genau ausrechnen und die Regelsätze entsprechend angepasst werden. Das heißt: Lebensalterspezifisch wird überprüft, wie hoch der Bedarf für Kinder in den unterschiedlichen Altersstufen tatsächlich ist. Das wäre eine gravierende Änderung zum bisherigen Verfahren.
Wie viel mehr werden 12-Jährige nun genau kriegen?
Ich bin ja für Messen und nicht für Schätzen. Deswegen werde ich selbst auch keine Schätzungen abgeben. Aber ich gehe fest davon aus, dass der Bedarfssatz deutlich höher als bisher ausfallen wird. Kinderarmut ist der wichtigste Grund für Bildungsmangel. Ich finde es traurig, wenn die Union mehr Bildung für Kinder fordert, aber nicht bereit ist, ihnen auch mehr Geld zukommen zu lassen. Um das Bildungsniveau anzuheben, brauchen wir mehr Umverteilung zugunsten der Kinder von ALG II- und Sozialhilfefamilien. Diesen Zusammenhang erkennt die Union aber leider nicht.
Das Prinzip von Hartz IV lautet, Bedürftige mit einem pauschalen Satz abzuspeisen, ohne die Lebensumstände zu berücksichtigen. Ist mit dem Urteil des Bundessozialgerichts nicht eine grundsätzliche Neujustierung von Hartz IV überfällig?
Das Urteil besagt, dass der Bedarf bei Kindern genauso wie bei Erwachsenen bestimmt werden soll.
Es soll aber auch dabei nur ein Durchschnittswert berechnet werden. Die Behörden müssen sich bereits mit einer gigantischen Klagewelle beschäftigen. Und es ist mit weiteren Urteilen zu rechnen, die zu dem Ergebnis kommen werden, dass bei Hartz IV gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoßen wird.
Man kann zu Hartz IV stehen, wie man will. Aber die vielen Klagen werden das Grundgerüst der Hartz-Gesetzgebung nicht umstürzen.
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