SPD-Basis empört über Sarrazin-Verbleib: Erste Austritte noch vor Ostern
In der Berliner SPD herrscht Entsetzen darüber, dass Thilo Sarrazin Mitglied der Partei bleiben darf.
Kopfschütteln, Unmut, Austritte: In der Berliner SPD herrscht Unverständnis über den Verbleib von Thilo Sarrazin in der Partei. "Peinlich", "enttäuschend", "unverständlich", lauteten am Freitag die Reaktionen auf die Blitz-Beendigung des Parteiausschlussverfahrens.
Wochenlang hatte die SPD das Verfahren gegen ihren Dauer-Provokateur vorbereitet, nachdem Sarrazin sein Buch "Deutschland schafft sich ab" veröffentlicht hatte. Teilweise einstimmig hatten die Bundesparteispitze, der Berliner Landesvorstand und der Kreisverband Charlottenburg-Wilmersdorf das Verfahren beschlossen. Doch nach fünfstündiger Sitzung der dreiköpfigen Schiedskommission am Donnerstag folgte ein überraschend schnelles Ende: eine gütliche Einigung.
Sarrazin veröffentlichte eine Erklärung, in der er unter anderem angibt, seine Aussagen nicht diskriminierend gemeint zu haben. Er habe sozialdemokratische Grundsätze nicht verletzen wollen. Im Gegenzug nahmen alle Antragsteller ihre Ausschlussanträge zurück. Die Reaktion der Berliner SPD: Ratlosigkeit und Befremden, von der Landes- bis zur Kreisebene, vor allem aber beim linken Parteiflügel, bei Jusos und Migranten.
Zu Thilo Sarrazin muss man kaum noch was sagen. Das erledigt der umstrittene Sozialdemokrat schon selbst:
"Gerade unter dem schönsten Baum sitzt immer schon der Wurm, der an der Wurzel nagt und später die Krone zum Welken bringt". Sarrazin auf Seite 21 seines Buchs "Deutschland schafft sich ab" über die Migrationstrends.
"Nach Deutschland einzuwandern lohnt sich auch für Unfähige und Faule". Sarrazin auf Seite 371 des Buchs.
"Mir lag es fern, in meinem Buch Gruppen, insbesondere Migranten, zu diskriminieren." Sarrazin in seiner Erklärung von Donnerstag.
"Für die weitere Zuwanderung gelten äußerst restriktive Bedingungen, die im Prinzip nur noch Spezialisten am obersten Ende der Qualifikationsskala erfüllen". Sarrazin in seinem Buch.
"Ich habe in meinem Buch nicht die Auffassung vertreten oder zum Ausdruck bringen wollen, dass sozialdarwinistische Theorien in die politische Praxis umgesetzt werden sollen." Sarrazin in seiner Erklärung von Donnerstag.
"Für jeden, der kommt, kommen zehn weitere. Das ist eine Kette ohne Ende. Es sind irgendwann fünf, dann sind es zehn, dann sind es 20. Das ist eine ganze Welle". Sarrazin in der Sendung "Anne Will" am letzten Sonntag über die 26.000 Bootsflüchtlinge aus Nordafrika, die Italien erreicht haben.
"Bei künftigen Veranstaltungen und Auftritten in der Öffentlichkeit werde ich darauf achten, durch Diskussionsbeiträge nicht mein Bekenntnis zu den sozialdemokratischen Grundsätzen infrage zu stellen oder stellen zu lassen". Sarrazin in seiner Erklärung von Donnerstag.
"Ich stehe zu allen Aussagen. Ich nehme kein Jota zurück." Sarrazin bei einem Vortrag vor der Industrie- und Handelskammer, noch am 12. April.
Als "peinlichen Zickzack-Kurs", der mit den Grundwerten der Partei betrieben werde, bezeichnet der Abgeordnete Raed Saleh das Verfahrensende. Saleh hatte selbst noch das erste Parteiausschluss-Verfahren gegen Sarrazin mitangestoßen. Dass die Antragsteller ihre Anträge nun zurückgezogen hätten, sei "nicht nachvollziehbar", schimpft Saleh. "Hier wurde nach Bauchgefühl entschieden, obwohl Sarrazin keine Fehler eingeräumt hat." In der Basis werde dies nicht gut ankommen, jetzt gehe es um "Schadensbegrenzung".
Das kann am Freitag Jan Stöß mit Zahlen untermauern. Allein bis zum Mittag seien zehn Austritts-E-Mails bei ihm eingegangen, sagt der SPD-Kreisvorsitzende und Stadtrat in Friedrichshain-Kreuzberg. Landesweit sind es nach Informationen der taz deutlich mehr. "Ich kann die Empörung verstehen." Das "Einknicken" der Antragsteller sei eine "Fehlentscheidung", so Stöß. "Der Landesvorstand muss nun zügig erklären, welche tragenden Gründe für den vorgeblichen Vergleich vorlagen." Im Wahlkampf werde der Entschluss keine Hilfe sein.
Auch Torsten Schneider, Abgeordneter aus Pankow, berichtet von angekündigten Parteiaustritten in seinem Bezirk. "Der Donnerstagabend wird parteiintern Spuren hinterlassen." Das Ergebnis sei aber erwartbar gewesen, so Schneider. Sarrazin hätte schon im ersten Ausschlussverfahren gehen müssen. Dabei gehe es keineswegs um Meinungsfreiheit, sondern darum, dass Sarrazin die Gleichwertigkeit aller Menschen in Frage gestellt habe. Schneider appelliert an seine Parteikollegen, jetzt die SPD nicht zu verlassen. "Wir brauchen das soziale Rückgrat in der Partei."
Auch bei den Jusos herrscht Frust. "Peinlich" sei der Entschluss, so der Kreisvorsitzende der Jusos in Treptow-Köpenick Lars Düsterhöft. "Die Wut und das Unverständnis sind sehr groß", sagt Landesvorsitzender Christian Berg. Er bezeichnet die Entscheidung als "nicht nachvollziehbar". Einen entsprechenden Spruch der Schiedskommission hätte man akzeptieren können, nicht aber ein "Einknicken bei dem kleinsten bisschen Widerstand". Berg, der die Nachricht auf einer Partei-Sitzung erhielt, beschreibt, dass viele Anwesenden spontan ihre Mitgliedschaft in Zweifel gezogen hätten. "Eine der ersten Reaktionen war die Frage, warum man noch in der Partei sein solle", sagt er. Diese Reaktion habe es nicht nur bei den Jusos, sondern auch auf Kreisebene gegeben.
Kenan Kolat kann Gleiches auch für die Migrantengruppen in der SPD berichten. "Ich bin entsetzt und empört, dass die Anträge zurückgezogen wurden", so der Vorsitzende des SPD-Bundesarbeitskreises Migration und Geschäftsführer des Türkischen Bundes Berlin-Brandenburg. Dass sich die Partei mit der dürftigen Erklärung Sarrazins zufrieden gebe, sei inakzeptabel. Kolat will ein außerordentliches Treffen seines Arbeitskreises einberufen. "Für uns Migranten in der Partei ist die Sache längst noch nicht erledigt."
"Enttäuschend", nennt auch die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Fraktion, Burgunde Grosse, die Einigung. "Warum hat man dann das Verfahren überhaupt in die Wege geleitet?", will sie wissen. Die Gremien-Frage stellt auch Juso-Chef Berg: Wozu habe man sich erst im Bundes-Parteivorstand einstimmig für ein Ausschlussverfahren entschieden, nur um es jetzt abzubrechen? "Vermutlich gab es die Angst, dass das Verfahren im Wahlkampf eine Rolle spielt", glaubt er.
Schweigen dagegen bei SPD-Landeschef Michael Müller am Freitag und auch beim Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit, der im Urlaub weilt. Wowereit hatte Sarrazins Thesen als "blödsinnig" kritisiert. Einzig Neuköllns SPD-Bürgermeister Klaus Buschkowsky findet den Ausgang des Ausschlussverfahrens begrüßenswert. "Dass sich jetzt alle aufeinander zubewegt haben, scheint mir vernünftig."
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