SPD-Abgeordneter Günter Neugebauer: Der letzte Zeuge von Kiel
Barschel-Skandal, Engholm-Rücktritt, Heide-Mörder - und das Ende der großen Koalition. Günter Neugebauer saß 30 Jahre im Kieler Landtag, hat alles miterlebt. Jetzt tritt er ab und erzählt.
Es hätte der schönste Tag in seinem Politikerleben werden sollen, dieser 17. März 2005. Der Höhepunkt seiner Zeit als Landtagsabgeordneter. Günter Neugebauer verlässt morgens hochkonzentriert sein Haus in Rendsburg-Hoheluft. Im Gepäck hat er die Rede seines Lebens. Neugebauer war gerade mit 57 Jahren Alterspräsident des schleswig-holsteinischen Parlaments geworden, der jüngste aller Zeiten.
Er will über die Verantwortung der Abgeordneten sprechen, "eine ganz tolle Rede, aus meiner Sicht", wie er heute findet. Später wird Neugebauer sagen, dass dieser 17. März zum Tiefpunkt seiner Karriere wurde. Nach seiner Rede folgte noch Tagesordnungspunkt 6: "Wahl der Ministerpräsidentin".
Heide Simonis scheiterte in vier Wahlgängen. Einer aus den eigenen Reihen hat ihr die Stimme verwehrt. Bis heute gibt es nur Vermutungen, wer es war. "Dass wir heute darüber abstimmen, die große Koalition aufzulösen, ist auch eine Folge dieses 17. März", sagt Neugebauer heute.
An diesem Montag berät der schleswig-holsteinische Landtag über seine Auflösung. Wenn die große Koalition endgültig platzt, geht ein weiteres Chaoskapitel des Kieler Parlaments zu Ende - und zugleich die politische Karriere von Günter Neugebauer. Der Kieler Landtag, dem er 30 Jahre angehörte, hat einige der heftigsten Skandale der deutschen Politik erlebt. Und der Einzige, der sie alle erlebt hat, ist Neugebauer. Er saß im Barschel-Untersuchungsausschuss. Er war Vertrauter Björn Engholms. Er hat Heide Simonis entdeckt. Und heute sitzt er im Beirat der HSH Nordbank und ist Vorsitzender des Finanzausschusses. Die Geschichte des Parlaments ist auch seine Geschichte.
Dokumentiert hat er diese Geschichte in hundert Aktenordnern, die in seinem Haus stehen, unter dem Dach in seinem Arbeitszimmer. Fotos mit ihm und SPD-Größen liegen herum.
Im Jahr 1979 gewinnt Neugebauer den Wahlkreis Rendsburg. Er ist 31 Jahre alt. Er kommt in einen Landtag, in dem die Abgeordneten von CDU und SPD tief verfeindet sind. "Damals haben mich die Abgeordneten der CDU noch nicht einmal gegrüßt", sagt er, "das Verhältnis war von Hass geprägt."
Ministerpräsident Gerhard Stoltenberg regiert das Land. "Es gab keine Untersuchungsausschüsse, er hat keine Akteneinsicht erlaubt, die Minister kamen nur selten in die nicht öffentlichen Ausschüsse", erzählt Neugebauer. In der "Astor-Runde" wurden regelmäßig die Herausgeber der Tageszeitungen auf Linie gebracht. "Stoltenberg war ein ganz schlimmer Machtmensch", sagt Neugebauer, "er kommt in der geschichtlichen Betrachtung viel zu gut weg."
Stoltenbergs Amtsvorgänger Helmut Lemke war noch aktiver Nazi. Schleswig-Holstein, das war ein "Sammelbecken für Kriegsverbrecher", empört sich Neugebauer. Heinrich Himmler und Albert Speer flüchteten am Ende des Zweiten Weltkriegs nach Flensburg und Plön. Schleswig-Holstein, das war das erste Bundesland, das 1951 die Entnazifizierung aufgehoben hat. Neugebauer sagt: "Eine der ersten Amtshandlungen der neuen CDU-Regierung."
Der junge Neugebauer begehrt in einer Ausschusssitzung auf. Der CDU-Abgeordnete Detlef Stecker behauptet, Deutschland habe gar nicht kapituliert, "sondern nur die Wehrmacht", erinnert sich Neugebauer. Er hat damals "Du alter Nazi" gerufen, und einen Ordnungsruf erhalten. Den einzigen in 30 Jahren.
Die Spaltung zwischen CDU und SPD setzt sich auch unter Ministerpräsident Uwe Barschel fort. Erstaunt stellte Neugebauer fest, dass Barschel ihn oft grüßte und im Plenum direkt auf ihn zuging. Barschel gab ihm die Hand, fragte nach dem Befinden. "Zu mir hatte er merkwürdigerweise ein fast liebenswürdiges Verhältnis", sagt Neugebauer, "vielleicht, weil ich damals im wichtigen Tourismusausschuss saß."
Doch Barschels CDU hatte ein Problem. Mit Björn Engholm war ein Sozialdemokrat Spitzenkandidat, der bürgerlich, gut gekleidet und redegewandt war. Er bot keine Angriffspunkte. "Es deutete viel darauf hin, dass wir die Wahl 1987 gewinnen würden", sagt Neugebauer.
Barschel reagierte mit der Kaltblütigkeit seiner Vorgänger. Sein neuer Medienreferent Reiner Pfeiffer wurde auf Engholm angesetzt, ließ ihn beschatten, verbreitete Lügen. Einen Tag vor der Wahl packte Pfeiffer im Spiegel aus. Die "Waterkantgate"-Affäre. Barschel gab sein Ehrenwort, nichts von der Bespitzelung gewusst zu haben. Kurz darauf gab er zu, gelogen zu haben. Er trat am 2. Oktober 1987 zurück.
Neugebauer liest den Namen Pfeiffer das erste Mal in der Zeitung. "Ich habe wahrscheinlich mit ihm in der Kantine gegessen, ohne ihn zu erkennen", vermutet er. Erst im Untersuchungsausschuss nach den Wahlen lernt er ihn kennen. "Er war überheblich, wollte den Märtyrer spielen", erinnert sich Neugebauer an die Befragung, "er war mir zuwider, ich hätte nicht mal ein gebrauchtes Fahrrad von ihm gekauft."
Es war ein schöner Herbsttag, der 11. Oktober 1987, als Günter Neugebauer mit Frau und Schwiegereltern von Büsum an der Nordsee in ihrem VW Jetta zurück nach Rendsburg fuhr. Gerade hatten sie sich für ein Ferienhaus entschieden, noch heute gehört es der Familie. Im Radio lief getragene Musik. "Wir dachten nach Tschernobyl sofort an ein Unglück in einem Atomkraftwerk." An diesem Tag wurde bekannt, dass ein Stern-Reporter den toten Uwe Barschel in der Badewanne seines Hotelzimmers in Genf gefunden hatte. Bis heute ist nicht geklärt, wie er starb. Mit der Affäre wurde auch eines von Neugebauers Idolen mit in den schleswig-holsteinischen Sumpf gezogen: Björn Engholm. Engholm erfuhr nicht, wie er angab, erst am Wahlwochenende von den Machenschaften Pfeiffers, sondern mindestens eine Woche vorher. Dass Engholm log, kostete ihn sechs Jahre später das Amt des Ministerpräsidenten, den SPD-Parteivorsitz und die Kanzlerkandidatur 1994.
Neugebauer kennt Engholm seit 1965, seit 1969 waren sie gemeinsam bei den JuSos. "Bis zum heutigen Tag ist Engholm ein Gewinn für die SPD", sagt er. Da wird der gelernte Steuerprüfer melancholisch. Er zeigt auf einen Platz auf der Terrasse. "Dort, auf diesem Stuhl habe ich mit ihm 1987 gesessen und das Schattenkabinett diskutiert", sagt er. Die Karriere Björn Engholms endet 1993 nur wenige Kilometer von Neugebauers Haus entfernt. Im "Konventgarten", einem Restaurant und Veranstaltungsort am mächtigen Nordostseekanal, findet am 3. Mai eine SPD-Sondersitzung statt. Neugebauer steht drei Meter entfernt, als er hört, wie sein Idol Engholm zurücktritt. Er will ihn umstimmen, meldet sich zu Wort. "Den Tag werde ich nie vergessen", sagt er, "nur beim Tod Willy Brandts war ich betroffener."
Für die SPD wird Heide Simonis Ministerpräsidentin. Neugebauer hatte sie 1974 als Ortsvereinsvorsitzender im Gasthaus "Siedlerquelle" in Rendsburg zu einem Bewerbungsgespräch für die Landtagskandidatur gebeten. Sie saßen im Hinterzimmer beim Bier. "Sie hat den besten Eindruck gemacht", sagt er. Er ebnet den Weg, wird ihr Mentor.
Im Jahr 1996 bricht sie mit Neugebauer. Sie steht im Wahlkampf, profiliert sich gegen die Grünen, den eigenen Koalitionspartner. Er hält das für falsch, kritisiert sie. Bis heute erholt sich das Verhältnis der beiden nicht mehr.
Nach Jahren der Ära Simonis entspannten sich die Beziehungen von CDU und SPD. Die CDU erholte sich langsam von der Barschel-Affäre. Im Landtagswahlkampf 2005 schien es trotz der unbeliebten Schröder-Fischer-Regierung in Schleswig-Holstein noch einmal für Rot-Grün zu reichen. "Wir waren zuversichtlich, wir dachten, wir schaffen es", sagt Neugebauer.
Bis eine Woche vor der Wahl. Dann verkündete die Bundesagentur für Arbeit erstmals fünf Millionen Arbeitslose, "das war der Hammer", sagt Neugebauer. Im TV-Duell zeigte sich zudem eine erkältete Heide Simonis schwach wie selten. "Sie kam rein körperlich gar nicht gegen Carstensen an", sagt Neugebauer.
Am Wahltag gewinnen SPD und Grüne 33 Sitze, CDU und FDP 34. Die dänische Minderheit vom SSW wird mit ihren zwei Abgeordneten zum Königsmacher. SPD und Grüne beschließen eine Minderheitsregierung, der SSW unterzeichnet einen Tolerierungsvertrag. Am 17. März, dem Tag von Günter Neugebauers großer Rede, müssen die Abgeordneten von SPD, Grünen und SSW für Simonis stimmen. Davor tauchen Namen mit potenziellen Abweichlern in den Medien auf. Die Stimmung ist gespannt, viele sind erleichtert, dass ihre Namen nicht dabei sind. Auch Neugebauer. Der Name Bernd Schröder fällt. Er sitzt am Morgen vor der Abstimmung in der Fraktion neben Neugebauer. Neugebauer erinnert sich: Schröder schluchzte, er würde bei aller Kritik niemals gegen sie stimmen.
Bis zum Ende glaubt Neugebauer, dass Simonis die Stimmen erhält. Er rät ihr zu einem vierten Wahlgang, obwohl sie nicht mehr will. Ein Fehler, wie er heute zugibt. Er schaut zusammen mit Ralf Stegner gebannt auf die Schriftführerin, zählt aus der Ferne mit. Bei 34 ist Schluss. Simonis verliert alles, so wie ihre Vorgänger. Und obwohl sich Neugebauer oft über sie geärgert hat, wusste er: "Das war ein Machtwechsel." Die ungeliebte große Koalition kam. Die Koalition, deren Ende heute, vier Jahre später, besiegelt wird.
Wieder ist Neugebauer mitten drin. Er sitzt dem Finanzausschuss vor. Noch eine Woche nachdem die Entscheidung über die Millionenabfindung an HSH-Nordbank-Chef Dirk Jens Nonnenmacher gefallen ist, bestreitet CDU-Finanzminister Rainer Wiegard dies im Ausschuss. Neugebauer schreibt einen empörten Brief an Carstensen, der offenbar gelogen hat, als er sagte, dass er die SPD vor der Entscheidung informiert habe.
Es ist das letzte Kapitel in Günter Neugebauers Politikerleben. Wenn sich das Parlament diese Woche auflöst, wird er das Arbeitszimmer aufräumen, in dem sich seine Mitschriften stapeln. Wenn am 27. September gewählt wird, wird er fehlen. Er, der letzte Zeuge der Affären von Kiel.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut