S-Bahn-Chaos in Berlin: Berliner rücken zusammen
Die zentrale Stadtbahn ist gesperrt. Auf Bahnsteigen und in den Zügen ist es wesentlich enger als sonst. Trotzdem bleiben die meisten Fahrgäste gelassen. Sie haben sich vorher informiert.
Dicht an dicht drängen sich die Menschen auf dem Bahnsteig der Regionalbahn am Ostbahnhof. 20 Minuten schon warten sie an diesem Montagmorgen kurz vor acht Uhr auf ihren Ersatzzug, der sie in Richtung Friedrichstraße und Zoo bringen soll. Die meisten sind Pendler aus den Randbezirken Berlins, unterwegs zur Arbeit. Etwa Wiebke Blinde. Die Angestellte im Bundesgesundheitsministerium lehnt an einem Treppengeländer und zieht gelassen an ihrer Zigarette - eigentlich ist das verboten, doch an diesem ersten Tag der Stadtbahnsperrung kümmert sich darum niemand. "Mich ärgert vor allem, dass die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen werden", sagt Blinde. Sie brauche jetzt deutlich länger zur Arbeit - wie so viele Fahrgäste. Trotzdem reagieren die meisten von ihnen mit geradezu buddhistischer Gelassenheit auf das gesteigerte Chaos im öffentlichen Nahverkehr.
Seit Montag fährt zwischen Ostbahnhof und Zoologischem Garten keine S-Bahn mehr. Grund ist eine Anordnung des Eisenbahn-Bundesamts (EBA): Räder und Achsen der Züge müssen häufiger überprüft werden. Andere Strecken werden nur eingeschränkt bedient. Die Berliner können nur noch auf ein Drittel des gesamten S-Bahn-Angebots zurückgreifen, schon in den Wochen zuvor hatte es erhebliche Einschränkungen gegeben. Mindestens drei Wochen lang soll die Sperrung der Stadtbahn noch dauern. Ersatzweise setzt die Deutsche Bahn, zu der das Unternehmen S-Bahn gehört, zwischen Ostbahnhof und Potsdam Hauptbahnhof zusätzliche Regionalzüge ein. Sie halten jedoch nicht an allen Stationen.
S-Bahn: Auf der Ringbahn und auf der Nord-Süd-Strecke fährt nur noch alle zehn Minuten ein Zug. Völlig eingestellt ist der Verkehr auf der Stadtbahnstrecke zwischen Bahnhof Zoo und Ostbahnhof, ebenfalls zwischen Olympiastadion und Spandau, zwischen Adlershof und Schönefeld und zwischen Springpfuhl und Wartenberg. Es fahren Ersatzbusse.
U-Bahn: Alle Linien (außer U4) fahren tagsüber mit maximaler Zuglänge und im 5-Minuten-Takt.
Tram: Auf fast allen Linien werden die Straßenbahnen verlängert. Die M4 fährt ab kommendem Freitag im 4-Minuten-Takt.
Busse: Die BVG setzt die jeweils größtmöglichen Busse ein, bei Bedarf auch zusätzliche Fahrzeuge. Ab Südkreuz fahren Busse alle 20 Minuten nach Schönefeld.
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Viele Fahrgäste lassen sich von den Unannehmlichkeiten nicht aus der Ruhe bringen, vielleicht haben sie in den vergangenen Wochen auch schon genug geschimpft. Anne-Kathrin Sander, die nach Potsdam an die Uni will, hört über Kopfhörer Musik und findet "alles nicht so schlimm". Sie fühle sich durch die Medien gut informiert über die Einschränkungen; zu Hause hat sie sich im Internet einen Alternativfahrplan herausgesucht. Und die vier zusätzlichen Regionalzüge pro Stunde und Richtung zwischen Ostbahnhof und Potsdam seien für sie sogar von Vorteil.
Natürlich wird trotzdem geschimpft. "Einfach scheiße" findet ein 30-jährige Handwerker im Regionalzug Richtung Zoo die Situation. Er sei "extra früher aufgestanden". Zudem müsse er mehrfach umsteigen.
Ein Spatz hüpft über Bahnsteig auf dem Bahnhof Friedrichstraße, während die 20-jährige Tina Chong irritiert zwischen den beiden Gleisen hin und her läuft. Erst auf dem Bahnhof hat die Touristin aus den USA vom S-Bahn-Notfahrplan erfahren. Ihr fünftägiger Berlinurlaub sei dadurch aber nicht beeinträchtigt. In Texas, wo Chong lebt, gebe es schließlich gar keine öffentlichen Verkehrsmittel, von daher: "No problem."
Fotografen und Kamerateams sammeln sich auf dem Bahnhof Zoo, um das - erhoffte - große Chaos auf den Bahnsteigen festzuhalten. Etwa dieser Art: Eine Menschentraube quetscht sich in eine Regionalbahn, im letzten Augenblick springt noch ein großer Mann durch die Tür in den Waggon, zwei Mädchen klemmen Sekunden später verzweifelt ihre Hände zwischen die sich schließende Tür, um auch noch mitfahren zu können - vergeblich. Solche Szenen sind jedoch die Ausnahme.
Auf dem Bahnhof Alexanderplatz verteilen vier Bahnangestellte in orangefarbenen Westen ein Kundenmagazin mit aktuellen Informationen. Sie haben gut zu tun, die Nachfrage ist groß. Auch die BVG hat Betreuer losgeschickt. Parallel laufen Durchsagen auf dem Bahnhof. "Wir bitten um Entschuldigung" ist der meistgehörte Satz an diesem Montag.
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