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Der Kommentar

Russlands Angriffskrieg erst der Anfang? Millionen werden sterben

Die fetten Jahre der deutschen Wohlstandsmehrung auf Augen-Zu-Basis sind vorbei. Mehr noch als Russland betrifft das China. Der Emanzipationsprozess wird knallhart – in Europa und den Diktaturen.

Vielerorts ist die Lage explosiv – war der russische Angriffskrieg der zündene Funke? Foto: Tyrone Siu/Reuters

Von UDO KNAPP

taz FUTURZWEI, 24.05.22 | Erst Russland, jetzt China: die fetten Jahre der Wohlstandsmehrung im Westen auf der Basis der Ignoranz der menschenfeindlichen Politik von illiberalen Herrschaftssystemen und offenen Diktaturen gehen zu Ende.

Die Bundesrepublik verabschiedet sich gerade von den Energie- Rohstofflieferungen aus Russland. Das kann gelingen, weil dieser Abschied mit einer Energierevolution hin zu einer komplett strombasierten Industrie auf der Basis regenerativer Energieträger verknüpft werden kann. Ohne Belastungen für jeden Einzelnen und insgesamt hohem Investitionsaufwand wird dieser Weg zur – hoffentlich gemeinsamen europäischen – Energieautonomie allerdings nicht abgehen.

Viele Konsumbereiche im Westen sind ohne chinesische Importe kaum vorstellbar

Die Revision der Abhängigkeiten von China wird ungleich schwieriger. China, eine kommunistische Diktatur mit staatlich kontrollierter kapitalistischer Wirtschaft, ist wegen seiner Einbindung in die globalisierten Wirtschaftsprozesse zu dem weltpolitisch stärksten Konkurrenten des freiheitlichen Westens aufgestiegen. Der Westen hat mit seinem exzessiven Export von Wirtschaftsgütern, dem freiwilligen Technologie-Ausverkauf und dem Import von Teilkomponenten für seine Werkbänke und Konsummärkte den Chinesen die Basis für ihren Aufstieg geschaffen. Viele Konsumbereiche im Westen sind ohne chinesische Importe kaum vorstellbar.

Die Rechtfertigung für diese Politik, die Hoffnung auf einen Wandel zu Demokratie durch Handel, war wissentlicher Selbstbetrug. Erst unter dem Eindruck des russischen Angriffskrieges in der Ukraine, der totalen Abschottung des Landes mit der Behauptung, Covid sei aus dem Westen eingeschleppt worden und dem Zusammenbruch der Lieferketten, wird bei der Innenpolitik in China notgedrungen genauer hingesehen.

Die kommunistische Partei ist auf dem Weg, mit Big Data und künstlicher Intelligenz eine totale Überwachungsdiktatur aufzubauen. Jeder einzelne Chinese wird in Zukunft ex ante überwacht. Aus allen seinen Lebensdaten in jeder seiner Lebenslagen werden seine potentiell abweichenden Entwicklungen im Vorhinein erkannt und strafrechtlich verfolgt, lange bevor wirklich etwas Systemabweichendes geschehen ist.

Erst die Uiguren, dann Taiwan?

Die Uiguren, die im „Autonomen Gebiet Xinjiang“ im Nordwesten Chinas leben, werden als Erprobungsobjekt für den Einsatz dieser neuen Überwachungstechnologien benutzt. In Umerziehungs- und Internierungslagern, sollen die Uiguren dazu gebracht werden ihre traditionelle, moslemische Kultur; ihr eigenes Denken und Sprechen aufzugeben und zu einem parteihörigen Bestandteil der chinesischen Mehrheitsgesellschaft umerzogen werden.

Die vor einer Woche internationalen Medien zugespielten, geheimen Polizeiberichte aus dem Gebiet Xinjiang belegen dieses Vorgehen mit Bildern und anderen Dokumenten so eindeutig, dass nach der Sensibilisierung durch die russischen Verbrechen in der Ukraine, die westliche Politik diese Verbrechen nicht mehr ignorieren kann. In Europa und den USA wird das Vorgehen gegen die Uiguren bereits als „erster digitaler Völkermord“ kommuniziert. Erst jetzt wird das Machtstreben der chinesischen KP in Afrika, im Pazifik und auch in Südamerika als reale Bedrohung der Interessen des Westens und seiner demokratischen Werte begriffen. Niemand will und kann jetzt noch ausschließen, dass die chinesische KP die Eroberung Taiwans in Angriff nehmen wird.

Für ein Ende der Abhängigkeiten

Nach der jetzt vorstellbar gewordenen Aufhebung der Abhängigkeit Europas von russischen Energierohstoffen, steht nun die Aufhebung der Abhängigkeit der europäischen und der gesamten westlichen Wirtschaft von Exporten nach und Importen aus China an. Das wird schwierig, weil die Lockerungen der Handelsbeziehungen mit China und ihre Bindung an menschenrechtliche und demokratische Standards direkte Folgen für das Produzieren und die Arbeitsplätze in der Bundesrepublik und Europa haben werden.

Zum Beispiel werden 37 Prozent der deutschen Autoproduktion in China verkauft. Diese Autos könnten bei neuen Handelsstandards wegen fehlender Teile aus China nicht zu Ende gebaut oder wegen ihrer Verteuerung überhaupt nicht mehr auf den chinesischen Märkten verkauft werden.

Der Westen müsste als politisches Druckmittel den Zugang zu seinen Märkten für alle chinesischen Produkte erschweren und parallel dazu alle staatlichen Bürgschaften der Bundesregierung für Investitionen in China einstellen, die heute noch selbstverständlich sind. Eine solche Politik würde zu hohen Arbeitsplatzverlusten in der Bundesrepublik und im Westen führen, denn ein Wiederaufbau der heute nach China ausgelagerten Produktionsteile im Westen und die Erschließung neuer Märkte würde sehr lange dauern. Handel mit China ohne faktische Unterstützung der chinesischen Überwachs- und Umerziehungsdiktatur gibt es nicht.

Keine Rückkehr zu Nationalimus

Eine Rückkehr zu rein nationaler Produktion und einer Handelsbeziehung jeder Nation für sich allein, ist indes nicht mehr realistisch: Da können die Boris Johnsons, die Trumpisten, die vereinten linken und rechten EU-Feinde in Frankreich und sonst wo noch so herzallerliebst vom primären Durchsetzen ihrer eigenen Interessen träumen.

Der deutsche Vizekanzler Robert Habeck hat zum Erstaunen vieler Teilnehmer beim Weltwirtschaftsforum in Davos vor diesem Hintergrund von der Notwendigkeit einer neuen Weltordnung gesprochen. Ihm schwebt vor, die westlichen Industriestaaten untereinander sehr viel enger zu verknüpfen. Er möchte für alle Schwellenländer der Welt, die sich auf demokratische Entwicklungen einlassen, Kooperationen und ein immer engeres, gemeinsames Wirtschaften aller freiheitlichen Länder auf den Weg bringen. Das ist eine große politische Idee, mehr allerdings nicht.

Die USA sehen in China die größte Herausforderung im Kampf um die Hegemonie der Systeme. Es ist allerdings offen, wie konkret weiter vorgegangen werden soll, um die militärische und wirtschaftliche Bedrohung des Westens durch China einzuhegen. US-Außenminister Antony Blinken formulierte dazu in einer Grundsatzrede an der George Washington University Ende Mai lediglich nicht spezifizierte Hoffnungen: „Wir haben tiefgreifende Differenzen mit der Kommunistischen Partei Chinas und mit der chinesischen Regierung. Aber diese Unterschiede bestehen zwischen Regierungen und Systemen, nicht zwischen unseren Völkern.“ Der US-amerikanische Investor und Intellektuelle George Soros führte diesen Gedanken in seiner jährlichen Pressekonferenz während des Weltwirtschaftsforums in Davos fort. Er sieht schwere wirtschaftliche und militärische Verwerfungen auf die Weltgemeinschaft aller Völker zukommen. Aber er vertraut darauf, dass am Ende die russischen und chinesischen Diktatoren von ihren Völkern von der Macht verjagt werden. Auch wenn bis dahin noch Millionen umkommen werden.

UDO KNAPP ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig das politische Geschehen für taz FUTURZWEI.