Russischer Schriftsteller über sein Land: Sie fordern Blut und bekommen es
Der russische Schriftsteller Dmitry Glukhovsky sieht sein Land auf dem Weg in eine Diktatur. Seine Generation stehe vor unerwarteten Erfahrungen.
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Meine Generation hat nicht die Massenunterdrückung und politischen Säuberungen erlebt, ebenso wenig die Schauprozesse, in denen eine zornige Öffentlichkeit die Exekution der Vaterlandsverräter forderte, sie lebte nicht in einer Atmosphäre allgemeinen Schreckens, lernte nicht, ihre Weltsicht von einem Tag auf den anderen zu ändern, ohne zu zögern an die Hinterlist der Verbündeten von gestern und an die guten Absichten der Feinde von gestern zu glauben oder Bruderkriege zu rechtfertigen, und sie war auch nicht zugegen während der moralischen und militärischen Vorwegnahme von Weltkriegen.
Die Sowjetunion, die wir erlebten, war schon ziemlich zum Pflanzenfresser geworden: Sie exekutierte die Leute nicht mehr, wenn diese nicht an ihre Grundlüge glaubten, erlaubte es ihnen, die Dinge im Stillen daheim in ihren behaglichen Küchen anzuzweifeln. Und sie verlangte auch keinen Applaus, wenn die Köpfe derer, die als „Volksfeinde“ galten, rollten.
Diejenigen aber, die die Vergangenheit miterlebt haben, erinnerten sich nicht gern an das, was vorher war, und jetzt wird auch klar, warum. Es liegt daran, dass das Überleben in einer solchen Lage einem vor allem Kompromisse mit sich selbst, mit dem eigenen Gewissen abverlangte. Ja, es war erforderlich, wegzusehen, und ja, es war auch erforderlich zu applaudieren, und für manche war es sogar erforderlich, andere zu exekutieren, gern oder ungern, um nicht selbst auf dem Richtblock zu landen.
Dmitry Glukhovsky, 1979 geboren, lebt in Moskau. Auf Deutsch erschien von ihm zuletzt der Roman „Der Posten“ (2021).
Die Leute wollen sich nicht an diese Dinge erinnern, und, um es genau zu sagen, sie wollen diese Dinge auch nicht zugeben. Es brauchte nicht allein Mut, um zu widersprechen, sondern auch, um etwas zu unterlassen, und es braucht Mut, sich später daran zu erinnern, wie man sich einmal – oder womöglich mehr als einmal – entschieden hat, um die Gefahr von sich abzuwenden.
Abgrund des Wahns
Und jetzt ereignen sich bei uns, in meiner Generation, live im Fernsehen Dinge, von denen man dachte, dass sie nie wieder geschehen würden. Uns wird eine überraschende Erfahrung zuteil: Wir bekommen die Gelegenheit zu begreifen, warum unsere Großeltern und Urgroßeltern schwiegen und es erduldeten, wie ganze Nationen in den Abgrund des Wahns stürzten, wie Völker die Augen verschlossen vor Tyrannen, die Weltkriege anzettelten, wie manche Völker stillschweigend auf den Richtblock kletterten und wie andere sich bereit erklärten, ihnen den Kopf abzuschlagen.
Jetzt sehen wir mit eigenen Augen, wie Leute entmenschlicht werden, bevor man sie vernichtet: durch Verspottung, durch Verleumdung, durch die Verzerrung ihrer Worte und Beweggründe und indem man ihnen die Fähigkeit abspricht, als Menschen überhaupt zu fühlen und zu denken.
Wir wissen, wie Raubtiere sich tarnen: Der Wolf zieht dem Schaf, das er soeben getötet hat, das Fell ab und kleidet sich damit.
Sich in ein Raubtier einfühlen
Wir lernen, uns in Gleichgültigkeit zu üben gegenüber der Ungerechtigkeit, die eindeutig vor unser aller Augen geschieht: Sie betrifft uns einfach nicht, und vielleicht wird sie das auch nicht, wenn wir bloß nicht mit dem Feuer spielen. Man kann halt nicht für alle Empathie haben!
Wir lernen, nicht mit dem Opfer, sondern mit dem Täter zu sympathisieren. Wenn man sich in ein Raubtier einfühlt, wirkt es so, als sei man auf seiner Seite, neben ihm, mit ihm zusammen. Es ist so, als würde man sich in der Nähe eines Hais aufhalten. Es ist weniger furchteinflößend, und man kann sogar an den Resten nagen, die ihm aus dem scharfzahnigen Kiefer fallen.
Wir lernen hinwegzusehen über den sich steigernden Wahnsinn von Herrschern und versichern uns stattdessen ihrer Weisheit und ihres Weitblicks. Wie der Offiziersdiener in Jaroslav Hašeks „Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk“, der tröpfchenweise den Schwachsinn seines Oberleutnants verabreicht bekommt, schlucken wir ihre verdrehten Verschwörungstheorien, bis wir uns so sehr an den Geschmack gewöhnt haben, dass wir um Nachschlag bitten.
Denn wenn ihr sie nicht glaubt, wer bleibt dann noch, um sie zu glauben! Ist es nicht besser, Fäkalien zu essen, als zu Bett zu gehen mit dem Gedanken, dass das eigene Leben in der Hand von Verrückten ist? Gibt es gar so etwas wie Kollektivwahn?
Feiglinge oder Sklaven
Ja, wir wissen, wie man stillhält, wie man wegschaut, sich wegduckt und seine Gedanken für sich behält, aber wir müssen noch lernen, diese Gedanken selbst beiseite zu schieben. Um nicht in Angst zu leben, um nicht das Gefühl zu haben, wir seien Feiglinge oder Sklaven, müssen wir lernen, aufrichtig zu glauben, was wir vor noch nicht allzu langer Zeit für falsch hielten.
Es bedeutet zu lernen, Seite an Seite zu marschieren, nach Aufforderung zu klatschen, aufrichtig, verzweifelt zu klatschen, wenn die Staatsfeinde exekutiert werden, und eine Gänsehaut zu spüren, wenn wir uns ehrlich an den Reden unseres Führers ergötzen.
Es bedeutet Kriege zu feiern. Blutvergießen zu begrüßen. Erklärungen und Rechtfertigungen dafür zu finden, hochgestimmt zu sein durch den Verrat unserer Brüder und die Vergeltungsakte gegen sie. Zu heucheln, dass man nicht bemerkt, und womöglich bemerkt man es sogar wirklich nicht mehr, wie das eigene Heimatland den Weg von faschistischen Diktaturen beschreitet, sich buchstäblich in deren Fußstapfen begibt, hin zu dem Ziel, das wir alle nur zu gut kennen.
Wir wollten nichts von der Vergangenheit wissen, weil wir dachten, wir hätten sie hinter uns gelassen. Es schien, als würde das Herbarium dieser grausig bizarren Gefühle auf alle Zeiten zwischen den Seiten von Lehrbüchern eingeschlossen bleiben. Doch die Geister, die sich von Groll, Straffreiheit und Anspruch nähren, nehmen an Größe zu und schieben die Seiten auseinander, kriechen aus der verstorbenen Vergangenheit in das lebendige Jetzt. Sie fordern Blut und bekommen es. Das Blut derer, die im Hier und Jetzt leben. Unser Blut, das heiß und rot ist statt braun und trocken.
Furcht davor, gar nicht zu leben
Wir werden lernen müssen, zusammen zu denken und zu marschieren, aus Angst vor allzu neugierigen Nachbarn und Autos mitten in der Nacht, und sabbernd demonstrativ die Ikonen und Portraits unserer Führer küssen, andächtig alles glaubend, was von den Solowjews und Tolstois dieser Welt an Binsenweisheiten verkündet wird, während wir uns unverdächtig verhalten, aus beständiger Furcht davor, gar nicht zu leben: lernen, all das zu tun …
Oder lernen, das Gegenteil zu tun: unsere Erinnerungen zu bewahren und an die Zukunft zu denken, vom Groll abzulassen und nicht in der Vergangenheit zu leben. Nicht die Lügen zu glauben und immer die Wahrheit einzufordern. Unangenehm ins Auge zu stechen, zu debattieren, unsere Würde zu verteidigen und für sie zu kämpfen.
Bis jetzt haben wir noch nichts verstanden von der Erfahrung derer, die vor uns lebten und starben, um es selbst anders zu machen. Darum müssen wir noch sehr viel lernen.
Aus dem Englischen von Tim Caspar Boehme
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