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Russische Truppen stürmen von Sieg zu Sieg

■ Moskau meldet Einnahme der letzten Kämpferhochburg im Süden Tschetscheniens. Nur: die schweren Gefechte dauern an

Wer in Russland noch der offiziellen Propaganda glaubt, hatte gestern allen Grund, stolz auf die heldenhafte russische Armee zu sein. Wie üblich eigenen Angaben zufolge und bislang noch nicht von unabhängiger Seite bestätigt, eroberten die Truppen bei ihrem „ruhmreichen Kampf gegen die tschetschenischen Terroristen“ gestern die letzte verbliebene Hochburg der Kämpfer im Süden der Kaukasusrepublik. Gegen Mittag wurde in dem Ort Schatoi im Argun-Flusstal die russische Flagge gehisst.

General Gennadi Troschew, stellvertretender Kommandeur der russischen Kaukasustruppen, erklärte das gesamte Tal für erobert. „Die Hauptgruppen der Rebellen sind zerschlagen“, verkündete er großspurig in gewohnter Siegesrhetorik. Damit seien die breit angelegten Operationen des Feldzuges im Kaukasus beendet. In den kommenden Wochen stünden der russischen Armee lediglich die Verfolgung und Vernichtung kleinerer Rebellengruppen im Gebirge bevor. „Sie sind in die Wälder geflohen, aber wir werden sie jagen und vernichten“, sagte der General.

Was das bedeutet, erläuterte ein russischer Offizier. Es sei wohl zu früh, den Sieg zu feiern, ließ sich Michail Komarow vernehmen. Er sei einfach fassungslos angesichts der Hilflosigkeit der russischen Kommandeure. Wie Ziegen würden die Soldaten in den tschetschenischen Bergen an der Nase herumgeführt werden. Andere Offiziere erklärten, die 2.000 in Schatoi verbliebenen Kämpfer seien nicht zerschlagen worden, sondern in andere Dörfer geflüchtet. Sie würden sich vermutlich wieder zusammenschließen, um ein zweites Schatoi zu bilden.

Wie zur Unterstützung der Skepsis von berufener Seite wurden gestern aus der Argun-Schlucht neue Kämpfe gemeldet. Die russischen Streitkräfte erklärten, sie hätten die Ortschaften Duba-Jurt, Dachu-Borsoi und Tschischki am nördlichen Ende der strategisch wichtigen Schlucht eingekesselt. Am heftigsten tobten die Kämpfe aber weiter südlich in den Dörfern Ulus-Kert, Sony und Kordon.

Vor den Wahlen braucht Wladimir Putin Erfolge

Dass erbitterte Kämpfe zu Scharmützeln im Zuge einer ultimativen „Säuberungsaktion“ umgedichtet werden und die Armee laut offiziellem Sprachduktus von Sieg zu Sieg eilt, ist nicht verwunderlich. Immerhin sind die Russen Ende des Monats dazu aufgerufen, einen neuen Präsidenten zu wählen. Und der erste Anwärter auf dieses Amt, Wladimir Putin, tut gut daran, Erfolge vorzuweisen. Noch sprechen sich jüngsten Umfragen zufolge zwei Drittel der Russen für eine Fortsetzung des Krieges „bis zum vollständigen Sieg über die Terroristen“ aus. Und nur 28 Prozent der Befragten treten für ein Ende der Kampfhandlungen und die Aufnahme von Friedensverhandlungen ein. Doch das könnte sich schnell ändern, je mehr Soldaten in starrer Horizontallage nach Hause zurückkehren und das wahre Ausmaß russischer Gräueltaten an der tschetschenischen Zivilbevölkerung bekannt wird.

Eine andere Sprache als General Troschew und die Berufsjubler der Kreml-Administration sprechen die Bilder von tschetschenischen Flüchtlingen. Nach Angaben der UNO hat in den umkämpften Gebieten erneut eine Massenflucht eingesetzt. Einige Augenzeugen berichteten von hunderten, andere von tausenden Tschetschenen, die vor den Kämpfen geflüchtet seien, teilte der Sprecher des UNO-Flüchtlingshilfswerks UNHCR, Ron Redmond, gestern in Genf mit. Seine Organisation sei zudem besorgt über Berichte über weit verbreitete Vertreibungen im Argun-Tal. Die Flüchtlinge hätten berichtet, russische Truppen würden verstärkt Jungen und Männer ab 15 Jahren verhaften. Einige der Festgenommen seien nicht wieder zurückgekehrt. Barbara Oertel

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