Russische Regimekritikerin Anna Mikhalchuk: Vermisst in Berlin
Die russische Künstlerin Anna Mikhalchuk ist verschwunden, die Umstände sind mysteriös. Seit November lebt die regimekritische Fotografin in Deutschland.
Die russische Künstlerin Anna Mikhalchuk gibt ihren Angehörigen, Freunden und auch der deutschen Polizei Rätsel auf. Am Freitag vor einer Woche verließ die 52-Jährige ihre Wohnung in Berlin, wo sie seit kurzem lebt. Sie wollte nur einen kurzen Spaziergang machen. Seither fehlt von ihr jede Spur. Mittlerweile ist auch der deutsche Staatsschutz in die Ermittlungen eingeschaltet - es gibt Spekulationen darüber, dass Mikhalchuks Verschwinden auch einen politischen Hintergrund haben könnte.
Derlei Mutmaßungen können keineswegs von vornherein ausgeschlossen werden. In den Jahren 2002 und 2003 geriet Anna Mikhalchuk, die auch unter dem Künstlernamen Anna Altschuk auftritt, in ihrer Heimat in die Schlagzeilen. Sechs Männer hatten eine Kunstausstellung mit dem Titel "Achtung, Religion!" im Moskauer Sacharow-Museum gestürmt und verwüstet. Doch nicht die orthodox-nationalistischen Randalierer, sondern der Museumsdirektor, der Kurator und die ebenfalls am Projekt beteiligte Künstlerin Anna Mikhalchuk fanden sich auf der Anklagebank wieder. Zwei der Beschuldigten wurden wegen "Aufstachelung zu religiösem Hass" zu Geldstrafen verurteilt, Mikhalchuk selbst freigesprochen.
Das Geschehen rund um die Ausstellung sowie antisemitische Beschimpfungen der Staatsanwaltschaft und sonstige verbale Entgleisungen gegen die Beschuldigten während des fünfmonatigen Prozesses dokumentierte Mikhalchuks Mann, der international renommierte Philosoph, Michail Ryklin, in seinem Buch "Mit dem Recht des Stärkeren" (in Deutschland im Suhrkamp-Verlag erschienen). Im vergangenen Jahr hat Ryklin auf der Leipziger Buchmesse den Preis für europäische Verständigung gewonnen.
Auch für die Künstlerin selbst war der Fall trotz Freispruchs keinesfalls erledigt. "Ich befürchte, dass die Behörden das Gerichtsurteil als Präzedenzfall nutzen werden. Mit diesem Urteil wird Russland praktisch von der Liste säkularer Nationen gestrichen", sagte sie damals und kritisierte damit einmal mehr öffentlich die gelenkte Demokratie à la Wladimir Putin.
Auf Konfrontation zur Staatsmacht ging Anna Mikhalchuk bereits zu Sowjetzeiten. In den 80er-Jahren war die 1955 auf der Insel Sachalin geborene studierte Historikerin Mitherausgeberin der Untergrundzeitschriften Paradigma und MDP. In der Folgezeit spezialisierte sich Mikhalchuk auf Lyrik, wurde jedoch vor allem mit Video- und Installationskunst sowie Fotografie bekannt. Ihre Werke wurden nicht nur in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, sondern auch im westlichen Ausland gezeigt. Der Konstruktion von Weiblichkeit ging sie in vielen Fotoarbeiten nach und ließ sich dabei von westlichen Genderdebatten beeinflussen. Andere Arbeiten thematisierten das unbewusste Weiterwirken von totalitären stalinistischen Denkstrukturen auch im heutigen Russland.
Nach Berlin waren Mikhalchuk und ihr Mann erst im vergangenen November gekommen. Michail Ryklin hat derzeit eine einjährige Gastprofessur am Institut für Slawistik der Humboldt-Universität inne. Freunden zufolge hatten sich die beiden jedoch auf einen längeren Aufenthalt eingerichtet. Seit gestern sind an der Suche auch Taucher der Berliner Polizei beteiligt. Sie suchten den Grund des Lietzensees nahe ihrer Wohnung im Berliner Stadtteil Charlottenburg ab.
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