Rundgang auf St. Pauli: Nur ein blasser Schimmer
Der Hamburger Kiez ist im Normalfall laut und klebrig, er blinkt und stinkt. Nun hat der Coronavirus das Leben dort von den Straßen gefegt.
In Zeiten der Corona-Krise ist zu Hause bleiben natürlich richtig. Und die Hamburger*innen scheinen das auch zu beherzigen. Wer jetzt noch draußen ist, führt entweder seinen Hund aus, lebt auf der Straße oder ist Teil einer Polizeipatrouille, die sicherstellt, dass sich alle an die Regeln halten. Schon am Freitagnachmittag wurden Treffen von mehr als sechs Menschen verboten, nun darf man nur noch zu zweit unterwegs sein.
Ein Streifenwagen wartet an der menschenleeren Kreuzung neben der Davidwache auf der Reeperbahn auf Grün. Die Polizisten können kaum glauben, dass die ganze Stadt tut, was sie soll: zu Hause bleiben. „Ich hab gedacht, wenn jemand eskaliert, dann doch hier“, sagt einer der beiden und schüttelt den Kopf.
Auch die Stimmung auf dem Kiez ist von Vorsicht geprägt. Fußgänger gehen zügig, ein Radfahrer fährt in ausschwenkendem Slalom an zwei Personen vorbei, um die anderthalb Meter Sicherheitsabstand einzuhalten.
![Eine Frau tanzt auf einer Bank Eine Frau tanzt auf einer Bank](https://taz.de/picture/4050042/14/tanzende_Frau-2.jpeg)
Vor dem Hamburger Club „Docks“ steht eine Frau auf einem Steinpodest und tanzt trotzig ganz ohne Musik vor sich hin, ihre Freundin sitzt auf einer Bank daneben. Ein blasser Schimmer dessen, was hier an einem Freitagabend normalerweise los ist.
Die Reeperbahn verteidigt ihren Ruf als berüchtigte Partymeile seit Jahrzehnten. Hans Albers, Udo Lindenberg und sogar Tom Waits haben sie besungen – diese Nostalgie klebt noch heute an ihr. Sie übt einen Sog aus. Auf Tourist*innen, die teilweise nur wegen dieser Straße nach Hamburg kommen, und auf viele Einheimische, die hier ihre Wochenenden verbringen.
Nichts an diesem Ort ist im eigentlichen Sinne schön. Es ist laut, klebrig, blinkt und stinkt. Neben Bars, Clubs und fröhlichen Nachteulen gibt es auch übergriffige Männer, einen unübersehbaren Straßenstrich und immer wieder Menschen, die sich am Straßenrand übergeben. Über die Reeperbahn torkeln auch jetzt zwei Gestalten, die offenbar nicht wissen, wohin mit sich. „Komm“, sagt die Frau und fasst ihren Begleiter tröstend am Arm, „wir gehen in den Kiosk. Der hat auf.“
Tatsächlich sind Kioske und Take-away-Restaurants zurzeit die einzigen, die geöffnet haben dürfen. McDonalds hat seinen Sitzbereich mit rot-weißem Absperrband abgesichert, an der Tür hängen drei Zettel mit Corona-Verfügungen immer neueren Datums. Auch im „Emma Markt“ in der Davidstraße ist kaum Betrieb. „Wer hier wohnt, kauft natürlich weiter hier ein“, sagt der Verkäufer, „aber die Partygäste am Wochenende fehlen uns natürlich. Welcher Tag ist eigentlich heute?“ Er lacht vergnügt. Das Schnapsregal hinter ihm ist komplett aufgefüllt.
Auf den Bürgersteig in einer Seitenstraße der Reeperbahn sind Kreidezeichnungen gemalt: Ein Mensch, ein Haus, ein Auto und ein paar riesige Kugeln mit Fühlern und Stacheln schweben dazwischen durch die Luft – ganz klar Coronaviren.
Nur wenige Meter Luftlinie von den Kreidezeichnungen entfernt befindet sich die wohl berüchtigste Straße auf dem Kiez: Die Herbertstraße, eine hinter Sichtblenden versteckte Gasse, in der Prostituierte normalerweise in Schaufenstern sitzen und andere Frauen nicht erwünscht sind.
Nun huschen zwei Fußgängerinnen, die die Gunst der Stunde offenbar genutzt haben, aus dem verborgenen Bereich hervor. In der Gasse selbst ist niemand mehr. Wenn man von den Rotlichtlampen und einigen mit Bikinimodels beklebten Hauseingängen absieht, könnte die Gasse als Bühnenbild für die Augsburger Puppenkiste dienen mit ihrem Kopfsteinpflaster und den zwergenhaften Reihenhäusern. Prostitution ist aufgrund der Ansteckungsgefahr inzwischen verboten, Sexarbeit findet, wenn überhaupt, im Geheimen statt.
Zurück auf der Hauptstraße sind neben den nach wie vor vielen Polizeistreifen nur noch wenige Menschen unterwegs. Die scheinen auf der Straße zu leben, ohne Rückzugsort von der Ansteckungsgefahr. Einer von ihnen ist Günni. Er hat freundliche Augen, einen Bart und ist für die Jahreszeit viel zu dünn angezogen. Er spüre eine Veränderung auf den Straßen: „Die Leute haben Angst“, sagt er. Er selbst habe draußen mehr Ruhe. „Aber wenn weniger Menschen unterwegs sind, kann ich mir natürlich auch weniger schnorren“, sagt er. „Das Virus ist meine geringste Sorge.“
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