Blick aus offenem Fenster ins Grüne mit Plattenbau dahinter

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Rundfahrt mit Einsamkeitsbeauftragtem:Allein in der Platte

Weil immer mehr Menschen unter Einsamkeit leiden, beschäftigt eine Erfurter Wohnungsbaugenossenschaft einen Lotsen. Begegnungen bei einer Rundfahrt.

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4.6.2024, 16:11  Uhr

Sylvio Böhm ist spät dran. Das Vorgespräch mit der taz hatte sich in die Länge gezogen und auch die Fahrt vom Erfurter Zentrum in den Südosten der Stadt dauert eben ihre Zeit – auch wenn heute nicht viel Verkehr ist. Eigentlich ist er so gut wie immer pünktlich, aber: „Die meisten meiner Klienten warten immer schon auf mich“, sagt Sylvio Böhm. Weil sie sich freuen. Weil sie dann jemanden zu Besuch haben, der bei ihnen auf dem Sofa sitzt, der Zeit hat für ein Gespräch über dies und das, für Kaffee und Kuchen und für Kummer oder Sorgen. Und weil sie für eine Stunde nicht einsam sind. Böhm ist Genossenschaftslotse der Wohnungsbaugenossenschaft Einheit eG in Erfurt (WBG) und auf dem Weg zu seiner ersten Klien­tin an diesem Mittwochvormittag.

Frau Geißler

Heidrun Geißler wartet schon, als Böhm mit der taz im Schlepptau an der Tür klingelt. Sie wohnt in Erfurt-Melchendorf in einem fünfstöckigen Plattenbau aus DDR-Zeiten. Der wurde nach der Wende wie alle anderen Gebäuderiegel im Wohngebiet im Südosten der thüringischen Landeshauptstadt aufwendig saniert. Heidrun Geißler lächelt, als sie im dritten Stockwerk flink die Tür öffnet und sich erst mal entschuldigt, weil sie heute noch nicht staubgesaugt hat. „Gucken Sie bloß nicht so genau hin“, sagt sie und wird zur Begrüßung von Sylvio Böhm umarmt. Dennoch wird sich durchweg gesiezt. Dem Reporter streckt sie die Hand entgegen. „Ich putze alles allein“, schiebt sie noch hinterher, „ich habe doch noch eine gesunde Hand.“

Frau Geißler ist nach einem Schlaganfall vor rund zwei Jahren linksseitig gelähmt und hat sich mit ihrer Lage arrangiert, wie sie erzählt. Sie läuft „ein bisschen schlecht“, benutzt draußen einen­ Rollator. „Das belastet mich, ist ja aber nötig.“ In der Wohnung bewegt sie sich ganz ohne Gehhilfe – als sie das sagt, schwingt Stolz mit. In der Reha hatte man ihr nahegelegt, besser in ein Pflegeheim zu ziehen. „Aber nicht mit mir“, sagt Heidrun Geißler kämpferisch.

Im Mai ist die Erfurterin 80 geworden. Seit 21 Jahren wohnt sie in ihrer schönen hellen Genossenschaftswohnung auf rund 80 Quadratmetern, hat zwei Balkons und ein altersgerechtes Bad. Einen Fahrstuhl gibt es auch. Als ihr Mann vor 11 Jahren starb, hatte sie über einen Umzug in eine kleinere Wohnung nachgedacht. Aber nicht lange: 60 Quadratmeter wären teurer gekommen als die jetzige Wohnung.

Zum Sohn hält sie Kontakt, er lebt auch in Erfurt, betreibt ein Restaurant und hat „leider wenig Zeit“. Sohnemann kommt aber trotzdem regelmäßig zu Besuch. Einmal die Woche kommt eine Haushaltshilfe für zwei Stunden, vom Pflegegeld der Stufe 1 bezahlt. Verpflegen tut sich Heidrun Geißler selbst.

„Ich bin gut dran“, fasst sie ihre Lage zusammen. Nur einkaufen geht allein nicht mehr, weil sie schnell das Gleichgewicht verliert. Hier springen die Nachbarn ein. „Ich habe Kontakt hier im Haus, das ist nicht so anonym wie woanders, viele wohnen schon lange hier.“ Auch eine enge Freundin – Heidrun Geißler weist mit dem Finger nach oben. „Sie duscht mich immer freitags“, sagt sie gerade, als wie zum Beweis das Smartphone klingelt. Die Freundin ist dran und will kurz nachfragen, ob alles gut sei. Ja, ist es. „Herr Böhm ist gerade da.“

Auch wenn Frau Geißler also auf andere Menschen zurückgreifen kann, sind ihr Böhms Besuche „ganz wichtig“, weil sie die „ganze Woche allein ist“. Meistens gehen die beiden spazieren und „reden, reden, reden“ – beziehungsweise Herr Böhm hört zu. Heidrun Geißler lauscht man gerne. Sie ist eine Frau, die lebhaft, amüsant und schlagfertig ist. Eine Frohnatur, die mit Menschen kann. Sie war viele Jahre selbstständige Friseurin in einem Salon im Erfurter Zentrum. Noch heute komme ein ehemaliger Stammkunde zu ihr nach Hause zum Haareschneiden. Mit nur noch einer gesunden Hand? Das geht gut, sagt sie. „Er merkt am Ergebnis keinen Unterschied zu früher.“

Und wie oft sieht sie Sylvio Böhm? „Viel zu wenig“, lacht Frau Geißler bei der Antwort auf. „Wir versuchen es wöchentlich“, sagt der Genossenschaftslotse. „Meistens funktioniert das auch.“

Balkon mit braunem Tannenbaum drauf

Foto: Roger Hagmann

Herrn Böhms Job

„Wir wollen, dass unsere Mitglieder so lange wie möglich selbstbestimmt in ihren Wohnungen leben können“, umreißt Sylvio Böhm das Ziel der WBG, die sogar eine Begegnungsstätte mit dem schönen Namen „Heimatstern“ betreibt. Dort können sich ältere Menschen zum Spielenachmittag, Kinoabend, Qigong oder Tanztee treffen. Wenn sie wollen. Frau Geißler etwa ist das zu viel, mit all den „fremden Menschen“. Und weil sie damit nicht alleine ist, wurde Böhms Stelle erfunden: Seit Oktober 2019 arbeitet der 56-jährige als Genossenschaftslotse. Zum Team gehören auch zwei Ansprechpartnerinnen in einem Büro mitten im Wohngebiet Melchendorf und zusätzlich eine Se­nio­renlotsin.

Sylvio Böhm bezeichnet sich als Quereinsteiger. In seinem Lehrberuf Elektriker hat er zehn Jahre gearbeitet und hat danach in den Einzelhandel gewechselt, unter anderem als Store­manager in einem Geschäft für hochwertige Bekleidung. Als er nach fast 18 Jahren einen neuen Job suchte, habe ihm eine Freundin gesagt, dass er doch „so ein kommunikativer Typ“ sei, und so kam eins zum anderen.

Weil sich immer mehr Menschen einsam fühlten, entstand in der WGB die Idee, der Vereinsamung etwas entgegenzusetzen. Für diesen Job wollten sie ganz bewusst niemanden aus der Immobilienwirtschaft – und auch keinen Psychologen, sondern eine Person, die sozusagen von Hause aus freundlich, offen und charmant ist. Die sich auf unterschiedlichste Typen einstellen kann, zupackend und zielorientiert.

Böhm kann sich noch gut an die ersten Wochen seines neuen Jobs erinnern: „Im Prinzip war ich wie ein Staubsaugervertreter“, erzählt er lachend. „Ich habe hier und da geklingelt und mich und meine Arbeit vorgestellt.“ Als Genossenschaftslotse besucht er einsame und hilfsbedürftige Senioren. „Ich gehe mit ihnen spazieren oder fahre sie im Rollstuhl aus, um sie aus ihren Wohnungen zu locken“, sagt Herr Böhm, „wenn es mir gelingt.“ Nun, es gelingt ihm oft.

Es geht auch um praktische Dinge und Formalitäten: Pflegestufen und Pflegegraderhöhungen beantragen oder, etwa in Fällen von Demenz, eine Betreuung über das Amtsgericht anzuregen. Oder um Wohngeldanträge.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Auch psychisch kranken Mietern anderer Altersgruppen bietet Böhm seine Hilfe an. „Auch junge Leute können einsam sein, nicht nur Alte“, sagt er. Auch für Suchtkranke oder Fälle von Verwahrlosung ist er zuständig. Wenn beide Seiten einverstanden sind, versucht er auch, bei Konflikten zwischen den Mietern zu vermitteln. „Frieden zu stiften“, wie er sagt.

Für solche Termine hat die WGB eigens Schokoladentafeln mit dem Namen „Einheit“ als Begrüßungsgeschenke prägen lassen, wahlweise kann es aber auch ein Piccolo-Sekt der nicht nur in Erfurt beliebten Marke „Rotkäppchen“ sein. Beides hat Böhm auch bei seinen Hausbesuchen dabei. Und über eine Schokolade wird sich auch die zweite Seniorin freuen, die wir nun ansteuern.

Frau Bickrodt

Im Firmenwagen mit dem weithin sichtbaren WBG-Logo setzt Herr Böhm routiniert den Blinker, und ein paar Fahrminuten später sind wir am Drosselberg. Im dritten Stock eines Plattenbaus klingeln wir – und warten ein Weilchen. „Hat sie den Termin vergessen?“, fragt sich Sylvio Böhm besorgt, das wäre gar nicht ihre Art. Aber da macht Ursula Bickrodt schon die Tür auf. Die 91-Jährige hat wohl gerade ein Nickerchen gemacht.

Sie trägt ein leuchtend orangefarbenes Oberteil und einen kunstvoll geflochtenen Dutt. Auch sie wird zur Begrüßung herzlich gedrückt von Herrn Böhm. Eine Umarmung ist so wichtig. Die Schokolade aber wird erst beim herzlichen Abschied überreicht.

Ein Mann sitzt im Hof eines Plattenbaus

Foto: Roger Hagmann

Statt auf eine erste Frage zu warten, fragt Bickrodt den Reporter aus Berlin, ob das Thema alte, einsame Menschen denn wirklich jemanden interessiere da draußen – „die Menschen sind doch heute so abgebrüht“.

Ursula Bickrodt hatte „ein schlechtes Leben“, wie sie erzählt. In Sondershausen geboren, in Bebra aufgewachsen, also in Thüringen, ist sie erst nach der Wende nach Erfurt gezogen. „Dabei bin ich doch ein Dorfmensch und liebe die Natur.“ Kommt Herr Böhm vorbei, gehen­ die beiden an guten Tagen spazieren oder setzen sich halt hinters Haus und schauen ins Grüne und unterhalten sich.

Die Mutter war krank, „die drei Brüder hingen mir am Rockzipfel“, dazu kamen wohl traumatisierende Erlebnisse, denn der Zweite Weltkrieg taucht ab und an in ihren Erzählungen ganz unvermittelt immer wieder auf („Krieg, Sirenen, Keller“), ebenso die DDR-Zeit („man durfte nichts sagen“) und natürlich die Familie. „Das Elternhaus ist nun vermietet“, bedauert Ursula Bickrodt, nachdem der letzte lebende Bruder „ins Altenheim ziehen musste“.

Sie selbst wohnte viele Jahre in Erfurt in einem schönen Altbau mit Stuck und Holzdielen, erzählt sie. Die Einraumwohnung hier, in der sie nun schon 12 Jahre lang lebt, mag sie aber immer noch nicht, sie fühlt sich eingepfercht: „Die riecht nach Bunker.“

Der frühe Tod eines Sohnes – ein Jugendfoto von ihm steht neben dem Bett – und der ihres Mannes hinterließen Narben auf der Seele. Eine Tochter lebt weit weg in Gelsenkirchen. Ein Sohn ganz in der Nähe, doch er hat den Kontakt vor Längerem abgebrochen. „Er hat sich entmuttert“, sagt Ursula Bickrodt und klingt traurig dabei.

Na ja, sagt sie, „das ist schon schlimm. Niemand ist da, ich könnte umfallen und dann …“, beendet sie den Satz nicht. Sie ist krank, hat vor Jahren Krebs überlebt, redet darüber aber kaum, wie Sylvio Böhm später im Auto erzählt. Frau Bickrodt sagt mit sarkastischem Unterton: „Die paar Tage kriege ich auch noch rum. Mit 91 hast du doch den Drücker in der Hand.“

Sie hat Pflegestufe 1, bekommt also sogenanntes Entlastungsgeld und könnte es für eine Haushaltshilfe, die entweder sauber macht oder den Einkauf übernimmt, verwenden. Das kommt für sie aber nicht infrage. Lieber gibt sie das Geld einem Nachbarn aus dem Haus, dem sie vertraut, der für sie einkauft und auch Geld abhebt, wenn sie welches braucht. „Er wohnt eins höher und setzt sich auch mal zu mir und hört zu.“

Und Herr Böhm? „Der ist wie ein Verwandter“, sagt Frau Bickrodt, die das Gespräch sichtlich zu genießen scheint. „Ich nenne ihn ja immer Böhmchen, wenn er kommt.“ Das ist in der Regel einmal die Woche der Fall, für ein Stündchen. „Wir reden viel“, sagt Böhm, „auch über Gedichte, oder singen zusammen alte Lieder, nur kann ich die meisten Texte leider nicht.“

Viele Türen und Balkone eines Plattenbaus

Foto: Roger Hagmann

Wie auf Stichwort beginnt Ursula Bickrodt ungeniert zu singen mit einer gut modellierten hohen Sopranstimme. Gesangsunterricht habe sie nie gehabt, auch wenn es so klingt: „Mutterl, unterm Dach ist ein Nesterl gebaut, schau, schau, schau, ja-a schau! Dort hat der Dompfaff ein Pärchen getraut, trau, trau, trau, ja-a trau.“ Es handelt sich um den Refrain des „Schwalbenliedes“ von Heintje aus dem Jahre 1967, also um einen Schlager.

Dann kommt gleich ein Gedicht hinterher: „Beim Totengräber pocht es an: / Mach auf, mach auf, du greiser Mann! / Tu auf die Tür und nimm den Stab, / Mußt zeigen mir ein teures Grab!“ Die Zeilen stammen von Johann Nepomuk Vogl (1802–66). „Tja,“, sagt Ursula Bickrodt. „das ist derzeit mein Thema.“

Sie selbst nimmt das Wort Einsamkeit nicht den Mund. Später im Auto sagt Herr Böhm: „Sie ist seit 40 Jahren alleinstehend, wer würde sich da nicht einsam fühlen?“ Und er erzählt auch, dass er schön öfter erst einmal Lebensmittel einkaufen gegangen ist, wenn er sie besucht hat, weil nichts zu essen im Haus war. „Das Gefühl, dass ich Angehörige ersetzen soll oder muss“, räumt er ein, „bereitet mir Unbehagen.“

Herrn Böhms Fingerspitzengefühl

Der Genossenschaftslotse hat Seminare für Mediation und Konfliktmanagement besucht. „Ich brauche Fingerspitzengefühl“, sagt Böhm. „Denn der Umgang mit Menschen ist nicht einfach.“ Es gibt die Verschlossenen, die alles ablehnen und abwehren. Dann die, die Nähe suchen und sehr mitteilungsbedürftig sind. Und natürlich gibt es auch aggressive Menschen. „Aber ich bin für alle da. Mir muss es bei jedem gelingen, Vertrauen zu erwecken, auf dass sie mich annehmen, damit ich helfen kann. Das ist die kleine Hürde bei meiner Arbeit.“

In den viereinhalb Jahren als Genossenschaftslotse hat Böhm genau 408 Klienten mindestens einmal besucht. Bei Menschen, die extrem unter Einsamkeit leiden, versucht er es wöchentlich. Zurzeit klappt das ganz gut, weil es nicht so viele sind: Fünf fordern das in der Häufigkeit ein: „Und das sind die, die weinen, wenn ich komme, oder weinen, wenn ich gehe. Wo ich merke: Die leiden stark.“

Am meisten litten Menschen, die noch Familienangehörige haben, die aber nicht unterstützen wollen oder können. Das ist laut Böhms Erfahrung oft schlimmer als bei Menschen, deren Freunde und Verwandte über die Jahre verstorben sind. „Ich unterscheide in zwei Gruppen“, sagt Böhm: „die Einsamen und die Vergessenen.“

Frau Eberhardt

Dritte Station in Erfurt-Melchendorf: Am Wiesenhügel, wieder ein Plattenbau. Hier wohnt Rosel Eberhardt, sie wird wie die beiden Damen zuvor geherzt und zur Begrüßung umarmt. Auf dem Sofa sitzend, kommt die Sprache, wie das so ist, wenn da jemand Fremdes dabei ist, erst mal aufs Wetter. „Es müsste mal wieder regnen“, sagt die 84-Jährige.

Im thüringischen Rothenburg geboren, lebt Rosel Eberhardt seit 35 Jahren in Erfurt, hat unter anderem bei der Stadt im Rechnungswesen gearbeitet. Seit 25 Jahren ist sie WBG-Mitglied und seither nur einmal umgezogen, weil der damalige Plattenbau rückgebaut wurde, wie sie erzählt. „Auf so eine Idee käme heute niemand mehr“, wirft Sylvio Böhm ein.

Rosel Eberhardt sagt, sie sei zufrieden mit ihrer hellen kleinen Wohnung mit Balkon. Rund 270 Euro Miete zahlt sie für ihre 44 Quadratmeter. Gesundheitlich aber gehe es ihr hingegen gar nicht gut. „Ich kann schlecht laufen, mit dem Rollator aber noch selbst einkaufen gehen, auch wenn es beschwerlich ist.“ Sie fährt mit der Straßenbahn ins Zentrum, wenn es sein muss, zum Beispiel zum Orthopädieschuhmacher wegen neuer Einlagen.

„Mein Körper ist arg lädiert“ sagt sie und zählt ihre Leiden auf: Chronischer Reflux, Osteoporose, eigentlich müsste sie am Handgelenk operiert werden, und sie hat viele Allergien. „Deshalb pendele ich Lebensmittel aus“, um al­ler­gische Reaktionen möglichst zu umgehen. Deshalb kauft sie ausschließlich Bioprodukte und allerhand Nahrungsergänzungsmittel. Das ist zwar recht teuer, ihre Rente sei auch nicht so hoch – „aber zu DDR-Zeiten habe ich wirtschaften gelernt“. Dazu liest sie Fachliteratur, um sich über die Medikamente zu informieren, die sie einnehmen muss. Frau Eberhardt ist ein kritischer, wachsamer und vorsichtiger Geist.

In die WBG-Begegnungsstätte zu ­gehen ist deshalb nichts für sie. „Wegen der vielen Leute und wegen der Ansteckungsgefahr.“ Herr Böhm wirft er an dieser Stelle ein, er würde aber nicht lockerlassen, und vielleicht lässt sich Frau Eberhardt doch eines Tages dazu bewegen, einmal zu einer der Veranstaltungen zu gehen … Denn sie sagt im Gespräch mit der taz ja selbst, dass sie einsam ist: „Keiner ist da.“ Viele Bekannte sind gestorben. Und früher kannte man sich im Wohnviertel und im Haus, da gab es immer ein Schwätzchen – „heute ist das leider nicht mehr so“.

Das stimmt, sagt auch Herr Böhm: „Als früher die Mieter noch selbst die Treppe wischten, kam man leichter ins Gespräch als heute, wo das eine Firma erledigt. Früher gab es keinen Fahrstuhl, da begegnete man sich auf der Treppe. Auch das ist heute anders. Man sieht die Nachbarn ja gar nicht mehr.“

Ein Sohn von Frau Eberhardt lebt in Braunschweig, eine Tochter in Worms, ein Sohn aber wie sie in Erfurt, und zu ihm hat sie öfter Kontakt, er hilft der Mutter hier und da mit einer Inter­netrecherche zu einem Medikament etc. aus. Frau Eberhardt hat keinen Computer und kein Handy, beides kommt ihr nicht ins Haus. Ein Festnetztelefon und ein Fernseher reichen. Auch eine Vorsorgevollmacht hat sie. Den Nutzen eines Notfallknopfes dagegen kann sie für sich noch nicht erkennen.

Sie hat Pflegestufe 1 und leistet sich von dem Geld einen Pflegedienst, der für sie alle schweren Einkaufssachen wie Kartoffeln oder Wasserkisten besorgt. „Ich wünschte, ich wäre ein bisschen gesünder und könnte noch mehr machen. Dann würde ich mir etwas zur Rente dazuverdienen – auch wegen der sozialen Kontakte.“

Herr Böhm ist so ein Kontakt. „Solche Termine wie der wöchentliche mit Frau Eberhardt gehören zum angenehmsten Teil meiner Arbeit.“ Praktisch sind seine Besuche auch. Ist es etwas kaputtgegangen, kann das Böhm gleich weiterleiten, damit sich der Hausmeister oder eine Firma darum kümmert.

„Ich freue mich, wenn Herr Böhm kommt“, sagt Frau Eberhardt, danach gefragt, was ihr die regelmäßigen Besuche des Genossenschaftslotsen bedeuten. „Das ist mein großes Glück, er ist eine Stütze. Gott sei Dank gibt es ihn. Er vermittelt mir ein Gefühl von Sicherheit. Wir unterhalten uns viel, das ist mir sehr wichtig. Hier im Haus ist sich jeder selbst der Nächste, da gibt es keine Kontakte. Der Einzige, mit dem ich Klartext reden kann, dem ich mein Herz ausschütten kann, ist Herr Böhm.“

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