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Rundblick auf Alpengipfel

Auf der Rigi steht die Wiege des Schweizer Alpentourismus. Trotz Massenfremdenverkehrs gibt es sie noch: die „Kraftorte“ der Stille und des heilenden Wassers mit Tradition

Auf der Rigi Foto: Andreas Hub/laif

Von Petra Jacob

Und rings die Herrlichkeit der Welt“, notierte Wolfgang Johann Goethe 1775 in sein Tagebuch. Der Dichter gehörte zu den ersten Bergtouristen, die auf die Rigi stiegen, das Bergmassiv zwischen dem Vierwaldstättersee, dem Zugersee und dem Lauerzersee in der Zentralschweiz. Die Rigi ist zwar nur knapp 1.800 Meter hoch, doch wegen der einmaligen Rundumsicht, auf 620 Alpengipfel, 13 Seen und 24 der 26 Schweizer Kantone, hat man ihr schon früh zu Recht den Titel „Königin der Berge“ verliehen.

Bekannt wurde der Berg zu Beginn nicht für seine Aussicht, sondern wegen der sogenannten Kraftorte. 1540 wird zum ersten Mal eine Heilquelle erwähnt, rund 350 Meter unter dem Rigi-Gipfel sei ein gewisser Barthli Joler aus Weggis durch Baden im kalten Wasser gesund geworden. Diese Nachricht zog die ersten „Wellness-Touristen“ und Pilger nach „Kaltbad“. 1585 wird die erste Kapelle errichtet, aus einer zweiten wird rund hundert Jahre später das erste Pilgerhaus, daraus entsteht in neuerer Zeit die erste Hotellerie. Für den Schweizer Journalisten Adi Kälin steht auf der Rigi die „Wiege des modernen Tourismus in den Alpen.“

Schon früh hatte es Reisende sowie Maler und Schriftsteller auf den Berg gezogen. Nicht nur Goethe, auch Gottfried Keller, Karl May und Mark Twain kamen. Ab 1850 sind es bereits bis zu 40.000 Besucher im Jahr. Sie kommen zu Fuß oder zu Pferd, Vermögende im Tragsessel. Selbst die britische Königin Victoria lässt sich 1868 in einer Sänfte hinaufschleppen. Wie noch mehr Menschen den Berg hochbringen, überlegen sich die geschäftstüchtigen Schweizer. Die originellste Idee sind Gondeln auf Schienen, die von Heliumballons in die Höhe gezogen wer­den sollten. Das klappte leider nicht, und es wurde weitergetüftelt.

1871 dann die Eröffnung der ersten Zahnradbahn Eur­opas, Start ist in Vitznau am Ufer des Vierwaldstättersees. 1875 kommt bereits eine zweite hinzu, sie fährt von Arth-Goldau ab, und 1968 eine Luftseilbahn, die von Weggis auf den Berg schwebt. Wer in alten Zeiten schwelgen möchte, kann noch heute im Salonwagen „Belle Epoque“ von 1873 reisen, zum Beispiel buchbar als „nostalgische Fonduefahrt mit dem ältesten Elektro-Zahnradtriebwagen der Welt“ (www.rigi.ch). Start ist wie vor 150 Jahren in Vitznau.

Die Zahl der Touristenist in den vergangenen Jahren stark gestiegen: von rund 600.000 im Jahr 2013 auf 910.000 in 2019. Heute sind es viele Gruppentouristen aus Asien. Sie bleiben oft nur eine Stunde am Berg. Die Kritik der Einheimischen nimmt zu, immer mehr Menschen werden auf die Rigi gekarrt, denen die Landschaft und Geschichte des Berges nichts bedeutet. Auch die vielen „Kraftorte“, für die die Rigi bekannt ist, sagen ihnen nichts.

Bereits die Vorchristen sollen sie als Kultplätze gewählt haben. Neben Heilquellen sind es besondere Plätze, an denen heute Kapellen, Kreuze oder Steinblöcke stehen. In neuerer Zeit konnten Messungen erhöhte Erdstrahlungen an diesen Orten feststellen. Um sie zu finden, braucht es Zeit und eine Wanderkarte. Zu Fuß unterwegs entdeckt man, dass die Rigi immer noch Kulturlandschaft ist. Bis heute weiden im Sommer die Kühe der Schwyzer Bauern auf den Alpwiesen. Am Wegesrand wachsen Feuerlilien, Frauenschuh und Flockenblumen.

Ein Zwischenstopp im legendären „Kraftort“ Kaltbad auf 1.450 Metern muss sein. Es ist immer noch ein Kurort, heute mit modernem Wellness-Hotel und Gaststätten. An die „600 Jahre alte Kurtradition anschließen“ will das erst 2012 eröffnete moderne „Mineralbad & Spa Rigi“. Das heißt: Baden im Heilwasser, das am „Drei-Schwestern-Brunnen“ bei der Dorfkapelle entspringt. Kalt und spartanisch wie anno dazumal ist der Badespaß nicht mehr. Das Wasser hat herrliche 35 Grad, ein Außenbecken Blick auf ein wunderschönes Bergpanorama. Im Erdgeschoss ein Spa-Bereich mit Kräutersauna, Dampfbad und Ruheliegen.

Für Proviant geht es über den Dorfplatz zum Lädli. Hier gibt es von allem etwas: Käse, Ruchbrot, Dörrbohnen, Kräuterbonbons und natürlich Schoggi. Im Angebot sind frisch gepflückte Kirschen aus Weggis, 250 Gramm für satte 9,50 Franken. An der Kasse ist auch das neuste Schwingerkönig-Sammelalbum erhältlich, „die Schwingerstars zum Sammeln, Tauschen, Einkleben“ heißt es da.

Ein Regal mit gebrauchten Büchern, darunter ein anrüchiger Skandalroman aus Japan. Den hat Schwester Theresia eingestellt, gegen eine Spende zu erwerben, lacht der Verkäufer. Bei ihm zu bezahlen „oder Sie bringen das Geld gleich zum Felsentor“, sagt er. Dort betreut die Franziskanerschwester einen Gnadenhof für Tiere. Es brauche nur dreißig Minuten den Berg hinunter, dann rechts durch den Wald bis zu den riesigen Felsen.

Drei Felsenkolosse liegen wie ein Tor für Riesen aufeinander. Dahinter ein Terrassencafé mit einfachen Klappstühlen, Blick auf die Berner Alpen und den Vierwaldstättersee. Daneben ein altes hübsches Hotel, ein japanischer Garten mit großen Trittsteinen, die zu einem original japanischen Zen-Tempel führen. „Das ist eine Medita­tionshalle, ein Zendo“, klärt Annemarie auf. Die Schweizerin war das letzte Stück Weg mitgewandert. Jeden Sonntag kommt sie aus Weggis hoch zur „Offenen Meditation“ im Zendo, an der jeder auch ohne Vorkenntnisse teilnehmen kann.

Kalt und spartanisch wie anno dazumal ist der Badespaß nicht mehr. Das Wasser hat herrliche 35 Grad. Es locken Kräutersauna und Dampfbad

Ansonsten ist das „Felsentor“ eine Lebensgemeinschaft und ein Kurszentrum. Im Programm: Tuschemalerei, Yoga, „Einfach nur gehen – Zen des Wanderns“, „Zen und Schreiben“ mit der renommierten deutschen Filmemacherin Doris Dörrie oder „Mit unseren Tieren meditieren“ mit Schwester Theresia und den Tieren des Gnadenhofs.

Etwas Besonderes ist die „Weidesäuberungwoche“, wenn Freiwillige gegen Kost und Logis helfen, die Bergwiesen vor dem Verbuschen zu bewahren. Es ist eine Kombination aus geistiger und körperlicher Betätigung, nach dem Schema: Meditiere und arbeite. Es beginnt um sechs Uhr morgens mit Mediation im Wald. Anschließend schweißtreibendes Arbeiten an steilen Hängen: kleine Tannen, Disteln und Ampfer ausreißen, Steine und Äste sammeln. Die Verköstigung ist vegetarisch. Abends eine Stunde Meditation im Zendo und Stille beim Arbeiten und Essen.

Die Menschen, die hierherkommen, suchen das. Sie kommen aus hektischen Städten und Berufen. Bei der Weideaktion mit dabei ist Katharina aus dem Ruhrgebiet, sie arbeitet im Krankenhaus, Franziska war dreißig Jahre lang Schlafwagenschaffnerin bei der Bahn, Petra ist Therapeutin in Wien und Werner Kameramann in Frankfurt.

Viele kommen regelmäßig, tanken auf. Dass dies auf der Rigi geschieht, nur wenige Minuten vom Massentourismus entfernt, scheint ein Wunder. Vielleicht auch der Beweis für die Kraft dieser „Kraftorte“. Denn auch das Felsentor ist einer.

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