: Ruhe unter Zeitungsbergen
SPIELFILMDEBÜT „10 vor 11“ von der türkischen Regisseurin Pelin Esmer erzählt von einer Sammelleidenschaft in Istanbul. Den Helden des Films spielt ein Laie
Es gibt viele Methoden, sich in der Welt zurechtzufinden. Mithat Bey, der Held des wunderschönen Spielfilmdebüts „10 vor 11“ von Pelin Esmer, sammelt Dinge. 50 Jahrgänge von vier Tageszeitungen stapeln sich meterhoch in seiner Wohnung; Bücher, Enzyklopädien, Wodkaflaschen, Tonbänder. Die Sammelleidenschaft des Helden erstreckt sich auf alles Mögliche. Seine Wohnung im vierten Stock eines Istanbuler Altbaus wirkt auf den ungeübten Blick wie ein überfüllter Trödelladen, ist aber eine seit den 50er Jahren zusammengestellte Kollektion, in der jedes Ding durch die Verwandtschaft mit anderen Dingen verbunden ist und so einen, wenn auch fragilen Sinn findet: die fehlende Zeitung eines einzigen Tages zerstört die Anstrengung vieler Jahre und treibt den Sammler in Verzweiflung.
Oft reist der stille, störrische Held in entlegene Teile Istanbuls, um seine Sammlung zu ergänzen. Seine antiökonomische Leidenschaft ordnet die Stadt, die in den oft dokumentarischen Bildern der Regisseurin lebendig, chaotisch und unübersichtlich wirkt.
Seine Frau hat den Sammler schon vor Jahren verlassen. Als sie verlangte, er solle sich zwischen ihr und der Sammlung entscheiden, hatte er die Kollektion gewählt, die ihm nicht nur metaphorisch Ruhe schenkt – die Zeitungsberge dämpfen tatsächlich die Geräusche in der Wohnung des Helden; das Licht in den zugerümpelten Räumen ist nostalgisch.
Im Erdgeschoss des Hauses wohnt Ali, der Hausmeister. Seitdem seine Tochter wegen der Feuchtigkeit im Haus an Asthma erkrankte und mit seiner Frau zurück aufs Land zog, lebt er allein, schaut Quizshows mit komischen Fragen („An welches Gericht muss sich ein Beamter wenden, wenn er meint, unberechtigt versetzt worden zu sein?“), sucht nach einem besseren Job und fährt manchmal in die Stadt, um dem Sonderling Dinge für dessen Sammlung zu besorgen.
Die Sammlung ist bedroht: Das Haus soll abgerissen werden, angeblich weil es nicht erdbebensicher ist, wohl aber aus Gründen der Spekulation. Alle Bewohner haben dem Abriss und der Umsiedlung zugestimmt. Bis auf Mithat Bey, der sich weigert, auch nur zu den Hausversammlungen zu erscheinen. Ihm werden Beamte auf den Hals gehetzt, die verlangen, er solle binnen zweier Wochen aufräumen, die Zeitungsstapel würden die Sicherheit des Hauses gefährden.
Auch aus anderer Richtung droht Gefahr: Im Krankenhaus erfährt der Held, dass er an einer Stauballergie leidet; weiter mit seiner Sammlung zu leben könnte tödlich sein. Während die anderen Bewohner allmählich ausziehen, lässt Mithat Bey einen Teil seiner Sammlung in den Keller bringen.
Pelin Esmers vielschichtiger, in Teilen fast dokumentarisch wirkender Film erzählt auf eine zurückhaltende, respektvolle Weise von den beiden allein lebenden Männern, ihrem Verhältnis zueinander, ihren Begegnungen mit anderen, vom heroischen Versuch des Helden, die Welt durch das Sammeln zusammenzuhalten, von Istanbul und seiner Geschichte. Der Held des Films wird von einem Laien, dem Onkel der Regisseurin, gespielt, der auch im echten Leben ein Sammler ist und den Pelin Esmer bereits 2002 in ihrem Dokumentarfilm „The Collector“ porträtiert hatte. DETLEF KUHLBRODT
■ „10 vor 11“. Regie: Pelin Esmer. Mit Nejat Isler, Mithat Esmer u. a. Türkei/Frankreich/Deutschland 2009, 110 Min.