Rugby-WM in England: Die pfeilschnellen Drachentöter
Bei der WM im eigenen Land will der ewige Zweite England den Spielstil des großen Favoriten Neuseeland noch besser vortragen.
Eines der größten Sportereignisse der Welt ist angelaufen: die Rugby-Weltmeisterschaft. Alle vier Jahre treffen sich die 20 besten Nationalmannschaften der Welt, diesmal auf der Nordhalbkugel, in England und Wales. Abgesehen von den Schlachtgesängen der einzelnen Fans und den Kriegstänzen der Pazifiknationen ist das eine gemütliche Veranstaltung. Die Fans sitzen bunt durcheinander und Bier fließt – wenn auch nur die Plörre des Hauptsponsors.
Bei jeder Rugby-WM seit der Premiere 1987 gibt es den ewig gleichen Mitfavoriten, die All Blacks aus Neuseeland. Sie heißen so, weil sie ganz in Schwarz spielen, von den Stutzen bis hoch zum Leibchen. Und sie haben diesmal die erfahrenste Mannschaft, mit satten 1.484 Länderspielen unter ihren 31 Turnierspielern verteilt. Das Land mit den nur 4,5 Millionen Einwohnern hat vor vier Jahren die WM zu Hause gewonnen. Nicht weil sie besondere Riesen in der Mannschaft haben, das auch, sondern weil sie am besten das Überfallrugby beherrschen: Den Gegner gern angreifen lassen, mit einer wohlgeordneten Verteidigung Welle um Welle abwehren und dann möglichst unerwartet den Ball erobern und blitzartig kontern.
Die Mischung aus Leichtigkeit und Zielstrebigkeit ist tief in der Rugbygeschichte Neuseelands verwurzelt. Und zwar von Jugend an. Schon zu Spielen etwa der Schulmannschaft Auckland Grammar kommen bis zu 7.000 Zuschauer. Sir Graham Henry, Trainer der Weltmeister von 2011 und Gewinner von fünf Südhalbkugelmeisterschaften, versucht das so zu erklären: „Sie müssen verstehen, dass Neuseeland ein sehr junges Land ist. Und Rugby hat dieses Land auf die Weltkarte gesetzt.“
Im modernen Rugby haben 100-Kilo-Gladiatoren die Laufqualitäten eines Hürdenläufers und trotzdem genug Kondition, um zwei Halbzeiten durchzurennen. Auf jeden Angreifer stürzen sich zwei Verteidiger, einer unten, damit er fällt, einer oben, damit er den Ball nicht mehr passen kann. Spielentscheidend sind daher Leute, die überraschend Richtungen wechseln, eintrainierte Überpässe auch unter hohem Druck an den Mann bringen und so die Verteidiger austricksen.
Schwarz gegen Weiß
Die All Blacks sind Meister dieses Spiels. Doch sie haben in letzter Zeit auch schwache Tage gehabt. Und sie haben Nachahmer gefunden, die sie zu überflügeln drohen. Allen voran die Gastgeber, die passenderweise ganz in Weiß spielenden Engländer mit dem Georgskreuz auf der Brust, dem heiligen Drachentöter.
Das Turnier: Die WM findet vom 18. September bis 31. Oktober 2015 in England statt. Die 20 Teilnehmer ermitteln in vier Vorrundengruppen die acht besten Teams für das Viertelfinale. Ab dann gilt das K.-o.-System.
Varianten: Bei der WM wird mit 15 Spielern pro Mannschaft gespielt. Bei den Olympischen Spielen in Rio wird die einfachere Variante mit nur 7 Spielern praktiziert.
TV-Präsenz: Eurosport überträgt eine Auswahl, ebenso der französische Sender TF1. Zu empfehlen sind auch Pubs mit englischem Pay-TV, vor allem in den deutschen Rugbystädten. Im Internet gibt es Livestreams, wer sich über einen Dienstleister eine englische IP besorgt, kann auf dem WM-Haussender ITV Spiele ordern. Auf Youtube stehen die besten Szenen und auch ganze Spiele wenige Stunden nach Abpfiff online.
Die ganz Weißen schöpfen aus einem riesigen Spielerreservoir, sie haben eine gutbezahlte Liga und endlich wieder einen Trainer, der das richtige Auge für die Zusammensetzung einer Mannschaft und die zu ihr passende Taktik hat. Und sie haben eine neue „World Cup-Waffe“, wie die immer selbstbesoffene englische Sportpresse schreibt: Jonny May. Ein nur 90 Kilo schwerer, pfeilschneller Außenflitzer, der noch die kleinste Lücke nutzt. Trainiert von einem englischen Exsprintolympiasieger.
Der 25-jährige nutzt die erarbeiteten Bälle seiner Kollegen, legt Versuche wie am Fließband und hat sich so in die Mannschaft gedrängt. In der Kabine motiviert er sich mit Videos von seinen vergangenen Versuchen: „Das sind kostbare Erinnerungen. Sie machen mich stolz. Ich will rausgehen und noch ein paar machen.“ So kompliziert die Taktik, so einfach die Umsetzung in manchen Köpfen.
Das Umsetzen wird auch nötig sein. Die Engländer sind zwar doppelter Jugendweltmeister, aber viermal hintereinander nur Zweiter bei den jährlichen Europameisterschaften geworden. Der ewige zweite Platz wird dem Heimpublikum nicht reichen.
Beim Eröffnungsspiel am Freitagabend (bei Redaktionsschluss noch nicht beendet) mussten die Engländer gleich gegen die große Unbekannte der WM antreten, Fidschi – die Mannschaft, auf die all diejenigen setzen, die ein Faible für David gegen Goliath haben. Die Mannen vom Südpazifik tragen weißes Trikot, schwarze Hose und sind eine Rugbynation, die jahrelang durch mieses Verbandsmanagement gehemmt war. Nach einem Militärputsch durften die Soldaten unter den Rugbyspielern wegen Sanktionen oft nicht ins Ausland reisen. Vor einem Jahr wurde der Putschist dann legal zum Premierminister gewählt, die Sanktionen sind aufgehoben.
Die leichte Kavallerie
Fidschis Spieler sind zu Hause zwar Helden, verdienen in dem 900.000-Einwohner-Inselstaat aber nur wenig. Daher sind sie buchstäblich über die Ligen der ganzen Welt verstreut, aber seit Wochen im Trainingslager versammelt. „Darunter einige der besten Spieler der Welt“, warnt einer der englischen Spielmacher, „es ist fast schon lächerlich, was sie noch aus dem kleinsten Raum machen können“. Wie die Engländer haben sie einen neuen, überraschenderweise fähigen Trainer und auch schon den ersten Erfolg vorzuweisen: die Pazifik-Meisterschaft, bei der immerhin ein halbes Dutzend anderer WM-Teilnehmer mitspielten. Und bei dieser Meisterschaft war ihr bemerkenswertester Spieler verletzungsbedingt gar nicht dabei.
Dieser Vorzeigespieler der Fidschianer ist Nemani Nadolo. Er spielt in der sogenannten Hintermannschaft, eigentlich als leichte Kavallerie zu umschreiben. Ist also ein Gegenspieler des englischen Sprinters Jonny May. Nadolo misst bei allem Tempo und bei aller Wendigkeit jedoch 1,96 Meter und bringt 125 bis 130 Kilogramm auf die Waage – „20 stone!“, wie die englische Presse solche Maße traditionell angibt. Der Koloss hatte sich die Brustmuskeln gezerrt, ist aber wieder fit. Auf Grund seiner Physis reißt er immer Lücken in die gegnerische Verteidigung.
Der Auftakt wird also nicht einfach für die Engländer. Und spätestens im Finale am 31. Oktober, nach sechs langen Wochen, werden sie es mit den All Blacks aufnehmen müssen, Weiß gegen Schwarz, Gastgeber gegen Favorit.
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