berliner szenen: Ruf der Wildnis
Trainerwelten
Dem Sonntagnachmittag entspringt eine gedehnte, süchtige Leere, die man beinahe hören kann. Ist es das Rauschen des Mangels, ist es die Witterung? Mit einem Mal klappt ein einzelnes Wort aus den Wünschen heraus: Spaziergang! Der Ruf der Wildnis führt direkt in die nächstgelegene Grünfläche hinein. Das ist der Fritz-Schloss-Park, ein kurioses Karree, flankiert von Strafanstalt und Amtsgericht sowie einer Weltausstellung maroder Sportanlagen. Am Giebel eines verbretterten Sportcasinos hat eine Uhr bei fünf vor zwölf zu ticken aufgehört. Doch nebenan, auf dem grünen Grasersatz eines Fußballfelds regt sich menschliches Leben: Gelegenheitskicker räumen freiwillig den Platz. Es wird ernst: Anstoß, Tiergarten triff auf Spandau. Bewegte Schatten wandern über den grünen Teppich hinweg, treue Fans bilden Grüppchen. Zwei Trainer, nein, zwei Trainerwelten, haben es sich am Spielfeldrand bequem gemacht. „Herr Tiergarten“ sitzt still auf den niedrigen Stufen, die das Spielfeld umgeben, einen Kalender auf den Knien, in dem er sich Ballverläufe und Spielernamen notiert. Nur hin und wieder schnaubt er ein „Gut gemacht“ in Richtung des Stürmers. Der andere steht in Höhe des gegnerischen Tors am Spielfeldrand und gibt mit gestählter Stimme die immergleiche Parole aus: „Nach vorne!“ Nachdem es Tiergarten nach 23 Minuten auf mehr als 10 Torchancen, aber kein einziges Tor bringt, gellen die Spandauer Hinweise in noch kürzerer Folge über den Platz. In Tiergarten runzelt man wegen des Schiedsrichters die Stirn: „Da geht der in meinen Spieler ’rein wie ein Holzpferd, und was passiert?“ Nichts. Nur wir, die Laien, bemerken verwundert, dass die Wirklichkeit keine Wiederholungen kennt, und setzen unseren Spaziergang fort. MONIKA RINCK
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