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Rotierende Q-Tips

■ Der französische Künstler Fabrice Hybert hat sich in der Untergrundmessehalle in Leipzig seine Mustermesse eingerichtet

Bekanntlich ist das Leben eine Baustelle. Was für das Leben in Leipzig in besonderem Maße gilt. Es fängt beim Hauptbahnhof an und endet bei Fabrice Hyberts „TestooWMuster“ noch lange nicht. Freilich kokettiert der französische Künstler in seiner Ausstellung in der unterirdischen Messehalle unter dem Marktplatz von Leipzig eher mit dem Anschein einer Baustelle, als daß sie tatsächlich eine wäre. Schließlich geht es hier doch mehr um die Kunst als um das Leben. Auch wenn das nicht völlig ausgemacht ist.

„TestooWMuster“ ist – wie im Namen deutlich wird – eine ortsspezifische künstlerische Einrichtung. 1894 wurde in Leipzig die 400 Jahre alte Warenmesse durch die erste Mustermesse der Welt abgelöst. Statt mit hochbepackten Fuhrwerken kamen die Anbieter nun mit dem handlichen Musterkoffer. Diese Tradition greift Fabrice Hybert für seine Schau auf. Allerdings haben es die Muster, die er vorführt, in sich. Sie können auch mal aus Bauschutt bestehen, aus einem Haufen Kieselsteinen oder zersplittertem Holz. Im Koffer waren also die 100 „Prototypen von Objekten in Funktion“ (kurz: P.O.F.) sowie die ihnen beigesellten hundert TV-Monitore nicht nach Leipzig zu befördern. Aber Fabrice Hybert breitet seine „TestooWMuster“ auch auf mindestens 2.000 qm Hallenfläche aus.

Die Anlage ist komplex, doch nicht kompliziert, wobei Hybert vor allem von Stéphane Bara geholfen wurde. Der Ausstellungsarchitekt des Centre Pompidou entwarf einen nachgerade bezaubernden Parcours und spannte billige, durchsichtige Plastikfolie und dichteres Plastikgewebe im typischen Hybert-Grün zwischen die Unmengen von Betonträgern. Dadurch entstanden provisorische Vitrinen und intime Ausstellungskojen, zwischen denen TV-Monitore leuchten und zwitschern – als Licht- und Informationsquelle gleichermaßen.

Die P.O.F. selbst finden sich auf rohen Holzpaletten und simplen Tischen wieder: ein einfacher Duschvorleger (No. 001), tragbare Frischluft (No. 013), die Haut toter Tiere, unter anderem eine Kuh (No. 017), flache Kieselsteine zum Ditschen (No. 039), das persönliche Wiederaufbereitungsrohr (No. 044), eine Prothese des 6. Fingers (No. 081), Kleidung aus Cyberschwamm (No. 089), farbbestimmte Hybert-Suppen (No. 090) und schließlich eine Treppe ohne Ende (No. 100). Als Deckendach (No. 010) taucht ein Plexiglaskasten auf, der vor zwei Jahren in der Pariser Ausstellung „Féminin- Masculin“ mittels Saugvorrichtung abgeschnittene Haare aufnahm. Damals bestand Hyberts Beitrag darin, den Friseur Denys Masson ins Museum einzuladen, der nicht zwischen einem Damen- oder Herrenhaarschnitt trennt.

Die Videoclips für die Monitore in Leipzig produzierte Hybert mit der transvestitischen Schauspielerin Eliane Pine Carringhton, die die P.O.F. verführerisch in Szene setzt. Wie schon aus den Bezeichnungen ersichtlich wird, ist es für den Besucher von Hyberts Mustermesse nicht immer einfach zu ergründen, zu welchem Behufe die einzelnen Dinge dienen. Dabei steht es ihm frei, sich seinen Reim auf die Prototypen zu machen.

Fabrice Hyberts Geschick scheint es ganz offensichtlich zu sein, wechselnde Kunst-Kooperativen zu initiieren und die richtigen Leute im richtigen Moment für das richtige Projekt einzuspannen, so auch ad hoc das Publikum. Neben dem unvermeidlichen Schweizer Kunstmanager Hans-Ulrich Obrist war es interessanterweise der Kunstraum Lüneburg, eine Einrichtung, mit der die junge Universität Kunst, Wirtschaft und Soziologie interdisziplinär vernetzt, die das Projekt frühzeitig begleitete.

Fabrice Hybert, ursprünglich als Mathematiker ausgebildet, ist ein fanatischer Zeichner, wie es der – jetzt zu einer grünen Mauer aufgeschichtete – Katalog zu seinem preisgekrönten französischen Biennale-Pavillon zeigt. Entsprechend dokumentierte Hybert im Lauf der Jahre mehrere tausend Gegenstände in seinen Zeichnungen, von denen die Lüneburger Studenten anläßlich seiner ersten großen Einzelausstellung 1994 im Musée d'Art Moderne de la Ville de Paris eine große Menge auftrieben – „Hybertmarché“, der Supermarkt der Hybertschen Funktionsobjekte war das Resultat.

Damals waren es noch zum großen Teil industriell gefertigte Gebrauchsgüter gewesen, die verfremdet dem Kunstgebrauch zugeführt wurden. Über eine weitere Station in Lüneburg selbst trat dann der Gedanke des Testverfahrens immer stärker hervor. Damit veränderten sich auch die Objekte, die ärmer, provisorischer, lächerlicher und zugleich komplizierter wurden. Der Akzent in Leipzig hat sich jetzt vom Augenmerk auf den alltäglichen Konsum auf den des Recyclings und des erfinderischen Gebrauchs verschoben. Der Konsument erwacht aus seiner passiven Rolle und wird zum Entwicklungsingenieur für Fabrice Hyberts „Gesellschaft mit unbegrenzter Haftung“.

Mit „TestooWMuster“ hat sich auch der Ausstellungsveranstalter für die unbegrenzte Haftung hinsichtlich seines Konzepts entschieden, neue Kunstentwicklungen in Leipzig vorzustellen. Denn mit den vorausgegangenen Präsentationen von Jenny Holzer und Ilya Kabakov hatte Klaus Werner, Direktor der Galerie für Zeitgenössische Kunst, die Leipziger noch nicht wirklich gefordert. Wahrscheinlich stimuliert das Leben auf der Baustelle des eigenen Hauses, das im Um- und Neubau der sogenannten Herfurthschen Villa deutliche Fortschritte zeigt, das energische Anvisieren der gesetzten Ziele.

Zudem scheint sich die Aufregung darüber, daß sich nach der Wende der Kulturkreis im Bundesverband der Deutschen Industrie mit seinem Vorsitzenden Arend Oetker ganz massiv für die Galerie für Zeitgenössische Kunst einsetzte, auch gelegt zu haben. Da das Leipziger Museum der bildenden Künste (das nun auf dem Sachsenplatz ebenfalls sein neues Haus erhält) große Lücken auf dem Gebiet der modernen und zeitgenössischen Kunst aufweist, wurde die Entscheidung des Kulturkreises, seine Sammlung von rund 50 Gemälden deutscher Nachkriegskunst der Galerie als Dauerleihgabe zu vermachen, als Affront gegen das Museum gewertet. Überdies erwiesen sich die Mitglieder des Kulturkreises als knauserig. Der Vorstand zog deshalb einige expressionistische Vorkriegswerke aus westdeutschen Museen ab und lieferte sie auf verschiedenen Auktionen ein, um mit dem so erwirtschafteten Geld den Bau des Leipziger Projekts zu finanzieren. Das sorgte für weiteres böses Blut.

Im Westen war man es auch kaum mehr gewohnt, daß das Leben eine Baustelle ist. Irgendwann wird das auch für den Osten gelten. Dann ist die Herfurthsche Villa fertiggestellt, mit einer Bibliothek zur zeitgenössischen Kunst, Sammlungsflächen und einer großen Ausstellungshalle. Brigitte Werneburg

Bis 15. Oktober, Untergrundmessehalle, Marktplatz Leipzig, Katalog 35 DM

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