Rote Flora: Happy Birthday, altes Haus!
Das besetzte Haus im Hamburger Schanzenviertel entzieht sich seit 25 Jahren der kapitalistischen Verwertungslogik – oder etwa nicht? Ein Geburtstagsgruß.
HAMBURG taz | Die soziale Praxis des Besetzens ist nach wie vor zeitgemäß und verspricht eine Reihe von Vorteilen im Vergleich zu anderen Formen der politischen Intervention. Das Nutzen von Räumen ohne die Zustimmung der Besitzenden stellt nicht nur die bestimmende Rolle des Eigentums infrage, sondern eröffnet vor allem Räume für andere Formen des Alltags. Es ist durch Momente der Selbstermächtigung geprägt und kann als effektive Form einer sozialen Wohnungspolitik angesehen werden. Jede Besetzung ist ein kleiner Sieg der Gebrauchswerte über den Tauschwert. Sie zeigt uns, dass eine andere Welt möglich ist.
Vieles, was in den Vorgaben des Wohnungsmarktes, der Kulturproduktion und der Stadtentwicklung keinen Platz finden konnte, wurde in den besetzten Häusern erprobt: Die Kollektiverfahrungen des Wohnens in großen Gruppen, die Ansätze einer solidarischen Ökonomie in den Volksküchen und Tauschläden, die von den Bewohner/innen bestimmte Gestaltung der Räume und Fassaden, die Punk-Läden und Techno-Klubs.
Es muss nicht allen gefallen, was sich in den besetzten Häusern entwickelt – allein die Möglichkeit des Experimentierens hat einen gesellschaftlichen Mehrwert. So sehr sich Stadtplaner und Marketingstrategen mit ihren Zwischennutzungsagenturen, Co-Working-Spaces und Beteiligungsformen auch bemühen, diese Bedingungen der Innovation zu simulieren, die Authentizität einer Bewegung ist nicht kopierbar. Dabei ist das Besetzen weniger der Ausdruck einer Lebensstilpräferenz als vielmehr ein Moment der Gegenmacht, in dem die Logik der Verwertung und Kontrolle suspendiert wird.
Ein Akt der Subversion
Der Blick in die Geschichte zeigt: Es ist die Abwesenheit von ökonomischen Verwertungsinteressen und staatlicher Planung, die Formen der Kollektivität, eine andere Ästhetik, eine solidarische Ökonomie und unkonventionelle Lebensmodelle erst ermöglicht. Das Besetzen ist ein Akt der Subversion, das Übertreten einer Grenze, die Überwindung der uns auferlegten Selbstbeschränkung und das kollektive Begehren nach einem anderen Leben. Die Agentur Bilwet hat Anfang der 1990er-Jahre die subjektiven Erfahrungen der Kraaker-Szene in Amsterdam als die Schaffung einer „außermedialen Realität“, als eine „radikale Wirklichkeit im Hier und Jetzt“ beschrieben.
Unter den aktuellen Bedingungen einer zunehmenden Entpolitisierung und Individualisierung gewinnen solche Momente an Bedeutung. Angesichts des Versagens von sozialen Hilfesystemen, der massenhaften Prekarisierung und voranschreitenden Exklusion orientieren sich weltweit die Subalternen, die Marginalisierten und die Unzufriedenen an den Prinzipien der Selbstermächtigung, wie sie auch in den Häuserkämpfen der Vergangenheit typisch waren.
Von Occupy Wallstreet bis zum Gezi-Park-Protest, von Picture the Homeless in New York bis zu den Zwangsräumungsblockaden in Spanien oder auch Berlin – die städtischen Proteste dieser Tage sind immer auch als Selbstbehauptung derer zu verstehen, über die sonst gesprochen, verhandelt und geschrieben wird. Bewegung entsteht nicht, weil kritische Wissenschaftler, wohlmeinende Sozialarbeiter und linke Parteien die Verhältnisse anprangern und gesellschaftliche Veränderungen im Interesse der „Betroffenen“ fordern. Bewegung entsteht auf der Straße, in den Nachbarschaften und allen anderen Orten, in denen sich der Wunsch nach einem besseren Leben in ein kollektives Erleben verwandelt.
Hausbesetzung ist ein Beitrag zur Lösung
Hausbesetzen ist aber auch ein Beitrag zur Lösung der Wohnungsfrage.Vor allem langfristig – das zeigen die Beispiele in Berlin, Hamburg, Frankfurt und Freiburg – bieten die ehemals besetzten Häuser günstige Wohngelegenheiten, selbst in gentrifizierten Nachbarschaften. Gerade im Vergleich zu Instrumenten wie Milieuschutzsatzungen oder Förderprogrammen schneidet die sozial-ökonomische Bilanz langfristig gesicherter Hausbesetzungen besser ab, weil die Verwertungsinteressen nicht nur ausgebremst, sondern tatsächlich aus dem Rennen genommen werden.
Mit der faktischen Enteignung privaten Immobilienbesitzes wird die Logik der Ertragserwartung durch eine Ökonomie der Selbsthilfe ersetzt, die sich ausschließlich an den Bedürfnissen und den realen Kosten orientiert. Das Herauslösen aus der kapitalistischen Verwertungsorientierung weist über die begrenzte Zahl von besetzten Häusern hinaus. Eine Lösung der Wohnungsfrage wird es nur geben, wenn es gelingt, auf der Basis einer marktfernen Bewirtschaftung das Wohnen als soziale Infrastruktur zu organisieren. Hausbesetzungen und die aus ihnen entwickelten Rechtsformen wie das Mietshäusersyndikat können dabei als Orientierung verstanden werden.
Andrej Holm, 44, Soziologe, forscht an der Humboldt-Universität Berlin über Gentrifizierung, europäische Stadtpolitik und Wohnungspolitik im internationalen Vergleich.
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