: Rot entsorgt grün
■ Der Westberliner Koalitionsstreit um den Hahn-Meitner-Reaktor
Innig ist der Ton zwischen den beiden Partnern in der rot -grünen Senatskoalition in West-Berlin schon lange nicht mehr. Mit ihrem Beschluß zum Forschungsreaktor des Hahn -Meitner-Instituts hat die Westberliner SPD nun jedoch endgültig das Faustrecht als Form der Auseinandersetzung etabliert. Den juristischen und politischen Argumenten der AL-Umweltsenatorin Michaele Schreyer konnten die Sozialdemokraten am Dienstag abend nichts entgegensetzen, sie hatten sich darum vor der gestrigen Entscheidung gar nicht erst bemüht. In der Sache mußte Walter Momper seiner grünen Juniorpartnerin am Ende sogar zustimmen: Einen vernünftigen Entsorgungsnachweis könne es dank Bonner Versäumnissen in der Atompolitik zur Zeit gar nicht geben.
Doch Schreyer mochte recht haben - recht behalten durfte sie nicht. Entsorgung hin, Brennelemente her, Momper brauchte einen Ausweg aus seiner Argumentationsnot und fand ihn, indem er die „Rechtseinheit mit dem Bund“ beschwor. Mit der bevorstehenden Wiedervereinigung hat dieses ehemals heilige Westberliner Prinzip seinen frommen Schein zwar verloren, trotzdem erhob Momper einen vierzeiligen Entsorgungs-Freibrief des Bonner Umweltministers Töpfer in den Rang eines Verfassungsartikels. Die atomkritischen SPD -Minister in den Bundesländern werden die Hände über dem Kopf zusammenschlagen: So einfach hat es dem Bonner Minister noch keiner gemacht.
Argumente hatte die Westberliner SPD nicht, aber Motive. Walter Momper, den Weltstadtwhopper, plagt die Angst, mitten im Wahlkampf der Springer-Presse zum Fraß vorgeworfen zu werden: Die Berliner SPD als Totengräber der Wissenschaft? Aber den Sozialdemokraten im Rathaus Schöneberg drohte noch Schlimmeres: Gesichtsverlust. Allzuoft hatten Momper und seine Genossen eine Genehmigung für den Reaktor und eine endgültige Entscheidung „an diesem Dienstag“ angekündigt. Eine erneute Vertagung, so die SPD-Senatoren, „hätte die Bevölkerung nicht verstanden“. Zu deutsch: Die Sozis hätten im Fall einer Kehrtwende ihre Argumentationsnot eingestehen müssen. Mitten im Wahlkampf probt Walter Momper nicht nur den Ausstieg aus Rot-Grün. En passant vermasselt er auch seinen westdeutschen Parteifreunden den Einstieg in den Ausstieg aus der Atomkraft. Ob es die Oberaussteiger in der SPD kümmert? Günther Jansen, Jo Leinen, Monika Griefahn und Otto Schily: Wie war das mit dem Atomausstieg und rot-grün als einzig realer Reformperspektive? Die Trümmer der Mauer haben wohl einiges begraben.
Hans-Martin Tillack
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