■ Rot-Grün hat die materielle Lage von vielen verbessert: Weniger Steuern, mehr Kindergeld. Aber kommt es darauf überhaupt an?: Warum harte Politik erfolgreich ist
Nein, mehr Geld als vorher hat heute niemand. Wen immer man fragte in den ersten Monaten dieses Jahres, Arbeiter, Angestellte, Beamte, Rentner und Pensionäre – für ihr Portmonee, sagen alle, hat Rot-Grün nichts gebracht. Den Einwand, es habe aber doch Steuersenkungen für Arbeitnehmer und Familien gegeben, wischen die Entlasteten souverän beiseite: selbst wenn – wird sowieso von der Ökosteuer weggefressen.
Dabei sind die Zahlen ganz eindrucksvoll: Der Eingangssteuersatz sank am 1. 1. 1999 von 25,9 auf 23,9 Prozent, der Grundfreibetrag stieg von 12.365 auf 13.067 Mark. Gleichzeitig wurde das Kindergeld von 220 auf 250 Mark erhöht. Am 1. 4. sank der Rentenversicherungsbeitrag von 20,3 auf 19,5 Prozent.
Zeitgleich und zur Finanzierung dieser Beitragssenkung wurde die Ökosteuer auf Benzin und Strom eingeführt. Ihre Auswirkung auf die verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte ist an der allgemeinen Teuerungsrate, in die jede Verbrauchssteuererhöhung eingeht, abzulesen. Mit 0,7 Prozent ist die Inflationsrate in diesem Jahr denkbar niedrig.
Damit nicht genug: Die Tarifabschlüsse 1999 liegen deutlich über den vorangegangenen. Und die Gehaltserhöhungen werden diesmal nicht durch steigende Abgaben konsumiert. Im Gegenteil, die Lohnnebenkosten sinken erstmals wieder. Anstelle der Reallohneinbußen der späten Kohl-Ära steht im ersten Jahr Rot-Grün ein dickes Plus unterm Strich: drei bis vier Prozent.
Weil Löhne und Gehälter sich – dank Politik und Tarifbewegung – dieses Jahr so positiv entwickeln, sollten nach dem Nettolohnanpassungsprinzip im kommenden Jahr die Renten um vier Prozent steigen. Da mutet es paradox an, dass in unserer politischen Öffentlichkeit die eine Vier-Prozent-Verbesserung, nämlich die für die Rentner, als selbstverständlich gilt, die andere aber, die zugrunde liegende Vier-Prozent-Steigerung für die Arbeitnehmer, schlicht als Propagandaerfindung der SPD wahrgenommen wird.
Was lehrt die neuen Regierenden dies? Dass man in der Politik keine Dankbarkeit erwarten sollte, wie Gerhard Schröder seinen Abgeordneten rät? Dass Umverteilungsreformen nicht trippelnd in drei Schritten, sondern besser in einem, als großer Sprung, zu vollziehen seien, damit sie merkbar werden – wie es mit der Steuerreform Tony Blairs New Labour vorgemacht hat? Oder weist Hans Eichels lakonische Bemerkung, die 30 Mark Kindergelderhöhung hätten ihm bei seinem „Wahlsieg“ in Hessen jedenfalls nicht geholfen, den Weg zu neuer Erkenntnis?
Zu loben, auch wenn das sonst kaum jemand tut, wäre jedenfalls die Glaubwürdigkeit, mit der insbesondere die SPD in den ersten Regierungsmonaten eilig ihr Wahlprogramm Punkt für Punkt abgearbeitet hat: jedem, dem vor der Wahl etwas versprochen war, auf Heller und Pfennig wohl, denen, die mit angedrohtem rot-grünem Kummer zu rechnen hatten (Energiewirtschaft, Versicherungen, Scheinselbstständige), wehe! Die großen sozialdemokratischen Zielgruppen – Arbeitnehmer, Familien – wurden sofort bedient, manche kleineren (Studenten) sollten noch folgen. Aber statt die materiellen Segnungen der neuen Politik einverständlich zu quittieren, nörgelt ein ganzes Wahlvolk am Wie der Reformen herum, an der Nachbesserei und am Koalitions-„Chaos“.
Offenbar wird es von vielen für unwahrscheinlich gehalten, dass gut gemeinte Politik ihre materielle Situation tatsächlich verbessern könne: „Am Ende zahlt doch immer der kleine Mann!“ Und zweitens wählen Wähler gar nicht so konsequent nach dem fein differenzierten Zielgruppen-Programm, mit dem vor allem Sozialdemokraten ihre Wahlsiege im voraus zu berechnen pflegen.
Deshalb ist es trotzdem richtig, nach der Wahl genau das zu tun, was man vorher versprochen hat – aber man könnte ganz anderes versprechen.
Wenn nun die materiellen Auswirkungen von Politik auf die eigenen Lebensverhältnisse nicht mehr wirklich gespürt werden, ist das eigentlich ein gutes Zeichen für eine im privaten Biographie-Design angekommene Wohlstandsgesellschaft. Politik scheint – bei zuverlässiger Abwesenheit von Krieg, Hunger, Seuchen und Inflation – für viele Einzelne kaum noch existenziell wichtig. Sie wollen in Ruhe gelassen, nicht mit immer neuen, noch „gerechteren'' Regelungen behelligt werden. Sie kommen schon zurecht.
Das verfügbare Einkommen privater Haushalte hängt jenseits jeder staatlichen Verteilungspolitik von so vielen anderen, „unpolitischen“ Faktoren ab: welcher Beruf, welcher Arbeitgeber, welche Region, Paar oder Einpersonenhaushalt, Alleinverdiener oder double income no kids, Kinder, wie viele, getrennt lebend, geschieden, neu verheiratet, wie viel Unterhalt, weitere Kinder, Vermögen, neuer Job, Teilzeit, Gehaltserhöhung, eigene Krankheit, pflegebedürftige Angehörige, Erbschaft, Frühverrentung, Kinder selbstständig, Haus abbezahlt, Lebensversicherung fällig ... Da mag die Steuersenkung um zwei Prozentpunkte kaum ins Gewicht fallen. Die Entscheidungen, Verläufe und Zufälle im Privaten überwiegen. Es muss also gar nicht so sein, dass die zahlreichen Begünstigten der rot-grünen Reformen nur nicht wahrhaben wollen, dass sie nun mehr Geld zum Ausgeben haben – sie merken es wirklich nicht.
Der volkswirtschaftliche Nutzen der Nachfrageverbesserung durch Erhöhung der Massenkaufkraft tritt freilich auch ohne dankbares Massenbewusstsein ein. Die Binnennachfrage hat im ersten halben Jahr gegen Asien- und Russlandkrise das deutsche Wirtschaftswachstum gestützt.
Politik und Rhetorik der geringfügigen Umverteilung zugunsten großer Zielgruppen haben schnell ihren Charme verloren. Gerhard Schröders „Wir haben verstanden“ am Abend der desaströsen Europawahl war gewiss nicht zynisch gemeint – Schluss mit den netten Gaben, weil's uns sowieso nichts nützt –, aber der Satz markiert einen Paradigmenwechsel sozialdemokratischer Politik, der unter der Wucht des dann überraschend präsentierten „Zukunftsprogramms“ noch nicht richtig wahrgenommen worden ist. So wie es aussieht, folgt der kurzen Phase der unbemerkten „Wohltaten“ nun die Phase Aufsehen erregender „Zumutungen“.
Auch diese werden materiell für viele Einzelne kaum spürbar sein. Ab dem Haushalt 2000 steht nicht mehr die Balance der privaten Budgets, sondern die Konsolidierung des Bundesbudgets (Schuldenstand: 1,5 Billionen Mark) im Vordergrund. Erstmals sind die Ausgaben des kommenden Jahres niedriger veranschlagt als im laufenden Etat (minus 1,5 Prozent). Die Erhöhung aller gesetzlichen Leistungen 2000 und 2001 nach Maßgabe der Teuerungsrate (um voraussichtlich 0,7 und 1,6 Prozent) bedeutet Realeinkommenssicherung für Rentner, Beamte, Pensionäre, Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger. Keine Verbesserung, keine Verschlechterung, kein Grund zum Lamentieren, wenn es nur „fair“ zugeht und diesmal die Inszenierung stimmt. Der Kanzler hat auf dem Bauerntag den populären Ton vorgegeben: „Ich bin nicht hier, um irgend etwas zurückzunehmen.“
Man hätte mit dieser Politik auch gleich anfangen können, man hätte mit dem Versprechen sanfter Zumutungen auch Wahlkampf machen können. Härte kommt beim Publikum gut an. Die Bürger erwarten gar keinen gebenden Staat, und was er gibt, ist immer zu wenig, was er nimmt, immer zu viel. Sie erwarten nicht in erster Linie die Thematisierung ihrer eigenen materiellen Interessen, sondern des Gemeinwohls. Wahlkämpfer und Regierende müssen sich nicht an Wählerzielgruppen, sie können sich an die Wähler in ihrer Eigenschaft als Staatsbürger direkt wenden. Die aktuellen Gemeinwohlprobleme, die alle angehen, sind Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung und die Stabilität der Sozialversicherung.
Wie heftig auch die Proteste der mehr oder weniger betroffenen „Zielgruppen“ im Herbst ausfallen mögen, die Schröder-Koalition wird alle Chancen haben, wieder gewählt zu werden, wenn es ihr in den nächsten drei Jahren gelingt, diese Kurven zu knicken: Arbeitslosigkeit runter, Neuverschuldung runter, Sozialversicherungsbeiträge runter (oder jedenfalls konstant halten). Das „Härte“-Programm haben Regierung und Koalitionsfraktionen unmittelbar vor der Sommerpause beschlossen.
Dass die Koalition nebenbei für viele die Steuern gesenkt und das Kindergeld erhöht hat, wird man ihr dann kaum weiter vorwerfen. Hans-Peter Bartels
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