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■ Rot-Grün an der Macht (4): Die neue Regierung will nicht mehr rot und nicht mehr grün sein. „United colors“ wäre das passendere LabelVorwärts und alles vergessen

Einige Zeit nach dem Mai 1981, in dem François Mitterrand Präsident Frankreichs geworden war und eine Koalition aus Sozialisten und Kommunisten die Regierung stellte, hatten sich in Frankreich zahlreiche griesgrämig gestimmte Leute zu Wort gemeldet, die dann den Gruppennamen „Les déçus de la gauche“ erhielten. Gegen die „Enttäuschten“ standen dann wieder andere Leute auf, die anders gestimmt waren, aber darum nicht unbedingt gescheitere Argumente hatten.

Ein ähnliches Spiel scheint sich nun in der neuen Schröder-Republik zu wiederholen, mit dem Unterschied allerdings, daß hier niemand von den „Enttäuschten der Linken“ spricht. Das wäre auch vollkommen unsinnig, denn irgend etwas Linkes ist im Gegensatz zu 1981 in Frankreich 1998 in Deutschland bei Gott niemandem versprochen worden. Wie sollen sie nun genannt werden – etwa die „Enttäuschten der Neuen Mitte“? Enttäuschung im Zusammenhang mit Mitte macht irgendwie keinen Sinn. Ebensogut könnte man ja sagen, man sei vom Wetter enttäuscht – oder von der Zweidrittelgesellschaft, deren Ausdruck zu sein die Regierungskoalition sich ja redlich anstrengt.

Worüber auch Enttäuschung? Ich für meinen Teil spüre nichts davon, denn bisher ist alles genauso gelaufen, wie es nach meiner Einschätzung zu erwarten war. Da Schröder es vor der Wahl sorgsam vermieden hatte, einen politischen Kurs anzugeben, kann man ihm heute schlecht einen Strick daraus drehen, daß er auch danach nur einen Dis-Kurs anzubieten hat.

Wäre ich Franzose, dann wäre ich vielleicht ein wenig enttäuscht von dem neuen deutschen Kanzler, der das dumpfe Geschichtsbewußtsein Kohls durch ein merkwürdig unsichtbares Geschichtsbewußtsein ersetzt hat; es mag zwar richtiger sein als das Kohlsche, ist jedoch derart subtil ausgefallen, daß man es gar nicht bemerkt. Die französische Einladung zum Gedenken an den Waffenstillstand von 1918, der, nebenbei gesagt, mit der Ablösung der Monarchie durch die Republik in Deutschland zusammenfiel, auszuschlagen, so als handle es sich um die Eröffnung einer regionalen Handwerksmesse, das hat man dort nicht begreifen können.

Da ich kein Franzose bin, kann ich darüber jedoch nicht besonders staunen oder mich gar erregen. Hier war es schon lange absehbar, daß der Kompaß derjenigen, die nun die neue Regierungskoalition bilden – sofern sie dieses altmodische Instrument überhaupt benutzen –, in Washington und London geeicht ist und Paris nur als unvermeidliche Abweichung kennt.

Rundum erfreulich fand ich, daß beim jetzt in Bonn führenden männlichen Personal der eine oder andere Bart gefallen ist, womit auch optisch der Abstand zu den politischen Frauen verringert wurde, zum Trost dafür, daß man sie nicht ins innerste Zentrum vorgelassen hat. Was sollen im Blick auf ein neues Jahrtausend auch Bärte, die Hinterlassenschaften überwundener bürgerrechtlich- evangelischer oder sozialpädagogisch-jungsozialistischer Vergangenheiten sind? Die visuelle Erscheinung der neuen Regierung kann sich durchaus sehen lassen. Sie läßt mich an das abstrakte russische Kunstwerk denken, von dem Brecht einmal berichtet hat: Es trug zwar den Titel „Lenin“, sollte aber gerade durch seine absolute Gegenstandslosigkeit ausdrücken, daß Lenin eben nichts glich, was jemals vor ihm in der Welt gewesen war. So sollen auch die rot-grünen Regierenden nichts Vergangenem und Bekanntem gleichen. Vor allem nichts aus ihrer eigenen, roten oder grünen, Vergangenheit Bekanntem. Unerhört neu sein wie der abstrakte Lenin. Schon der Name „rot-grün“ führt deshalb in die Irre. Ja schade, daß der Name „United colors“ bereits anderweitig besetzt ist.

Woher kam, bleibt noch zu fragen, eigentlich die beachtliche Startenergie, die in der Schröder- Equipe entfesselt wurde? Vom kräftigen Abstoßen, denke ich, wie beim Schwimmsport. Abstoßen von wem oder was? Von Kohl und der CDU? Ach was, man weiß ja schon gar nicht mehr richtig, wer das war, so rasch ist deren Ära in der Versenkung verschwunden. Der energiespendende Kontrast ist woanders zu suchen. Wenn die neuen Minister gleich losgerast sind, dann nicht, um Abstand zur CDU zu gewinnen, sondern zu sich selbst und zu den Idiosynkrasien, mit denen sie immer noch assoziiert werden. Bloß nie mehr Grüne sein, die man unglücklicherweise einmal gewesen ist!

Das muß aber auch gezeigt werden, und womit anfangen, wenn nicht mit der beherzten Zustimmung zu dem energiepolitisch und ökologisch unsinnigsten Projekt, das man sich in diesem Land hat ausdenken können, dem Braunkohleabbau Garzweiler II? Die mit ungeheurem Energieaufwand aus der Erde gekratzte Braunkohle hat bekanntlich den schlechtesten Energienutzungsgrad, und der mit ihr erzeugte Strom läßt sich auch nur eingeschränkt im Grundlastbereich verwenden, wie ich mir von einem Experten habe erklären lassen. Doch vorwärts und alles vergessen!

Das Boot ist voll, sagt sinngemäß mit Blick auf im Mittelmeer herumpaddelnde Kosovo-Albaner und andere schlechte Schwimmer Innenminister Schily, der bereits zu Zeiten Kohls mit seinem Plädoyer für den großen Lauschangriff eindrucksvoll durchgestartet war, Abstand zu alten Freiheits- und Persönlichkeitsideen gewinnend: Indem er nun die gleiche Sprache gebraucht wie anno 1940 die Schweiz, die vor den Nazis Geflohene nicht im Land haben wollte, gibt er zu verstehen, daß er auf gutem Weg ist, zum fortgeschrittenen Stand subtilen Schröderschen Geschichtsbewußtseins aufzuschließen. Es bewegt sich etwas im Land – was soll daran enttäuschend sein?

Frankreich, bei uns früher häufig als militaristisches Land kritisiert, hat gerade Soldaten ins vom Hurrikan verwüstete Zentralamerika geschickt, die dort Straßen und Brücken wiederaufbauen sollen. Ach, dieses treuherzige Frankreich! Auf solche Ideen käme das deutsche Regierungspersonal schon deshalb nicht, weil sich mit der Gegend um Nicaragua herum manche beschämende Erinnerung verbindet; außerdem liegt sie nicht an der Oder. Ernsthafte Staatsmänner wie Bill Clinton und Tony Blair setzen ihre Streitkräfte auch nicht solcher Lappalien wegen in Marsch. So werden auch deutsche Soldaten geschont und für bessere Gelegenheiten aufgehoben, für den Tag X nämlich, an dem der im Namen der Humanität egal gegen wen geführte große Militärschlag die rot-grüne Seele endlich von letzten Friedensschlacken befreien darf. Lothar Baier

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