Rot-Grün-Gelb will NSU-Aufarbeitung: „Eine schwelende Wunde“
Die Ampel will die NSU-Aufklärung forcieren und ein Archiv schaffen. Die Ombudsfrau der Opferfamilien lobt das – hält aber weitere Hilfen für nötig.
Zehn Jahre ist das Auffliegen der NSU-Terrorzelle inzwischen her, zentrale Fragen dazu sind jedoch bis heute ungeklärt. Gab es weitere Helfer? Wer beschaffte die vielen Waffen? Wonach wurden die Opfer ausgewählt? Die Ampel will es dabei nicht belassen. Die Frage ist nur: Was folgt daraus konkret?
„Der NSU-Terror bleibt eine schwelende Wunde“, sagte Konstantin von Notz, der für die Grünen den Bereich Innere Sicherheit verhandelte, am Donnerstag der taz. „Es herrschte Konsens in den Verhandlungen, dass bei dem Komplex relevante Fragen und Verantwortlichkeiten ungeklärt sind und wir uns damit nicht abfinden wollen.“ Wie genau diese Aufarbeitung aussehen kann, ließ von Notz vorerst offen. Er schloss aber auch einen erneuten Untersuchungsausschuss nicht aus. „Alle Möglichkeiten, doch noch zu Antworten zu kommen, müssen ausgeschöpft werden.“
„Darf zu keinem Schlussstrich kommen“
Auch Benjamin Strasser, der für die FDP mitverhandelte, betonte: „Zehn Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU darf es zu keinem Schlussstrich in der Aufarbeitung kommen. Zu vieles ist im Dunkeln geblieben.“
Für die Ampel gehört zu der Aufarbeitung auch ein Rechtsterrorismus-Archiv, das maßgeblich mit NSU-Akten befüllt würde – aber nicht nur. „Rechtsterror hat dieses Land an vielen Orten getroffen“, erinnert von Notz. „Wir wollen diese Orte zusammenführen, das Wissen dazu bündeln und daraus Konsequenzen ziehen.“ Man habe sich generell vorgenommen, wegzukommen von Spontanreaktionen nach Terrortaten, hin zu fundierten, längerfristigen Strategien und Maßnahmen.
Auch FDP-Mann Strasser betont, dass mit dem Archiv alle verfügbaren Unterlagen zu rechtsterrorischen Anschlägen in Deutschland langfristig gesichert und systematisch ausgewertet werden könnten. Auch könne sich dieses aktiv „mit der Blockadepolitik von Verfassungsschutzämtern“ beschäftigen.
Thüringen brachte NSU-Archiv schon auf den Weg
Mit der Idee eines NSU-Archivs und Gedenkorts dockt die Ampel an eine Initiative aus Thüringen an, wo das NSU-Trio untertauchte. In dem Bundesland ist beides, auf Beschluss des Landtags, bereits seit Längerem in Planung. Der Gedenkort soll in Erfurt entstehen, wo die parlamentarische Aufklärung des Terrors stattfand. Anfang August wurde dafür laut Thüringer Staatskanzlei ein nichtoffener Gestaltungswettbewerb für Künstler und Landschaftsarchitekten gestartet. Eine Jurysitzung ist für den Sommer 2022 geplant, eine Umsetzung für 2023.
Für das Archiv wurden eigens die Akten der zwei Thüringer NSU-Untersuchungsausschüsse und sämtliche Notizen vor der Vernichtung gerettet. Diese sollen künftig für Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Journalist:innen zugänglich sein. Die konkrete Umsetzung gestaltet sich indes schwierig. Eine Sprecherin der Staatskanzlei sprach am Donnerstag von einem „sehr komplexen Vorgang“, der unterschiedliche Institutionen binde und die Prüfung mehrerer Rechtsvorschriften nötig mache. Den Ampel-Plan begrüßte sie: „Wenn die neue Bundesregierung eine Initiative für ein zentrales Archiv zum Rechtsterrorismus plant, erwarten wir die Konzeption mit Spannung und freuen uns auf den Austausch.“
In Sachsen wiederum soll ein NSU-Dokumentationszentrum in Zwickau entstehen, wo der NSU einen Unterschlupf hatte. Erst zu Monatsbeginn überreichte dort Justizministerin Katja Meier (Grüne) dem Verein „Regionale Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie“ (RAA) einen Fördermittelbescheid von 95.000 Euro für die konzeptionelle Planung. Das Zentrum solle „ein lebendiger Ort“ für Bildungsarbeit und demokratischen Austausch sein, erklärte Meier. Sie betonte aber auch: „Die Auseinandersetzung mit dem NSU-Komplex ist von nationaler Tragweite.“
Das greift die Ampel nun auf. Eine Kooperation mit dem Thüringer Archiv oder dem sächsischen Dokumentationszentrum sei denkbar, erklärte von Notz. „Die konkrete Ausgestaltung des Archivs ist noch nicht geklärt, soll aber auch nicht auf die lange Bank geschoben werden.“ Im Koalitionsvertrag ist für das Rechtsterror-Archiv ausdrücklich eine „Zusammenarbeit mit betroffenen Bundesländern“ festgehalten.
Keine Geheimakten für 120 Jahre mehr
Und auch in zwei weiteren Punkten zieht die Ampel Konsequenzen aus dem NSU-Versagen. Zum einen soll es künftig keine Aktensperrungen von 120 Jahren mehr geben, wie es bei einer hessischen NSU-Akte geschah – die Frist wurde von der schwarz-grünen Landesregierung erst nach Druck abgesenkt. Hier hält der Ampel-Koalitionsvertrag nun „archivrechtliche Schutzfristen von maximal 30 Jahren“ fest. Bei Streitfragen über VS-Einstufungen soll eine unabhängige Kontrollinstanz entscheiden.
Zum anderen sollen die Einsätze von V-Leuten nochmals gesetzlich geregelt und „parlamentarisch überprüfbar“ werden, „unter Wahrung der notwendigen Anonymität“. Von Notz spricht auch hier von „notwendigen Schritten, um ein erneutes Versagen wie beim NSU-Terror oder dem Anschlag vom Breitscheidplatz entgegenzutreten“.
Ombudsfrau hofft auf neue Erkenntnisse
Die Betroffenen des NSU-Terrors begrüßen die Pläne. „Es ist eine gute Nachricht für die Opfer und Hinterbliebenenfamilien, dass die neue Bundesregierung unter das Thema NSU keinen Schlussstrich ziehen will“, sagte Ombudsfrau Barbara John am Donnerstag der taz. Die an vielen Stellen archivierten Dokumente zum Rechtsterror zusammenzuführen, könnte „zu neuen Erkenntnissen über rechtsradikale Netzwerke führen und helfen, offene Fragen zu weiteren Beteiligten zu beantworten“.
John betonte aber, dass es auch anderweitig noch Probleme für die Familien gebe. „Dazu gehört an erster Stelle, Opfer und Hinterbliebene ausländerrechtlich als Härtefälle zu behandeln, besonders wenn es darum geht, ihren Aufenthalt in der Bundesrepublik zu sichern.“
Auch die Amadeu-Antonio-Stiftung und der Bundesverband der Mobilen Opferberatungen (BMB) verwiesen auf eine Leerstelle. So sei es „ernüchternd“, dass die Ampel in ihrem Koalitionsvertrag nicht die Empfehlungen der NSU-Untersuchungsausschüsse erwähne, die „dringend vollständig“ umgesetzt werden müssten. Insgesamt sei der Koalitionsvertrag aber „ein starkes Signal gegen Rechtsextremismus“.
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