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Roman über das beginnende AlterDer Viagra-Mann, die Palliativbetreuung und die Sehnsucht

Die Rushhour des Lebens ist abgehakt – und dann? Die Schriftstellerin Sabine Peters beschreibt in ihrem neuen Roman „Die dritte Hälfte“ des Daseins.

Wenn der Abend hereinbricht: John Constable „Study of Clouds – Evening“, 1822 Foto: heritage images/imago

Sabine Peters hat einen leichten, slapstickartigen Witz, der in Deutschland weniger beheimatet ist und eher aus dem Britischen zu stammen scheint. Ihre Romane sind denn auch oft an der Nordsee angesiedelt, da gibt es atmosphärisch andere Schwingungen.

In „Die dritte Hälfte“ widmet sie sich einem Sujet, das generell ziemlich unterbelichtet ist, weil es normalerweise mit großer Schwere und Tiefe daherkommt: dem Alter, oder speziell dem beginnenden Alter.

„Doc“, die Hauptfigur, ist praktischer Arzt und sitzt Tag für Tag in seinem Sprechzimmer, wo die gesamten Malaisen der Gegenwart an ihm vorüberziehen und vorzugsweise Alte über wirkliche und eingebildete Beschwerden klagen – ein Spiegel dessen, das wird allmählich klar, was auch in ihm selber vorgeht.

Sabine Peters: „Die dritte Hälfte“. Wallstein, Göttingen 2024, 231 Seiten, 22 Euro

Das Ensemble dieses gleichermaßen witzigen wie weisen Romans tritt bereits auf den ersten Seiten vollständig in Erscheinung. Es ist ein Panoptikum, in dem die Figuren zunächst skizzenhaft, fast wie in karikierenden Zeichnungen vorgeführt werden, eine Draufsicht ohne vordergründige Psychologie.

Binnensicht als Romanelement

Docs Freund Bruno Brumlik, genannt „der Brummer“, vergleicht einmal Doc und sich selbst mit dem Personal in Douglas Adams’ Thriller „Per Anhalter durch die Galaxis“ und stellt fest: „Da war fix was in Bewegung, anders als bei uns. Bei uns entwickelt sich nicht viel, sieh uns doch an! Wir sitzen hier, umschwebt von Denk- und Sprechblasen. Wir sind wie Bilder. Wir sind eine stehende Malerei.“ Und genau mit dieser Binnenansicht ihrer Figuren spielt die Autorin Sabine Peters unentwegt. Das ist etwas anderes als das übliche Plot-Konstruieren.

Freund Brummer ist Kunsthistoriker, seine Scheidung liegt lange zurück, und wenn er über seinen Aufsatz über den englischen Maler Constable nachdenkt oder in der Hamburger Kunsthalle über ästhetische Wahrnehmungsmuster räsoniert, geht das auch den Roman selbst an, in dem er vorkommt.

Die Personenskizzen haben etwas Bizarres, bilden aber gleichzeitig eine sehr differenzierte Gesellschaftsstudie

Docs Frau ist vor einiger Zeit gestorben. Neben ihm wohnt die ebenfalls an der Schwelle zum Rentenalter befindliche Mechthild, mit der er alle zwei Wochen sonntags einen Film schaut und die mit ihrem Sohn Kilian und dessen Freundin Lena auch Elemente der jüngeren Generation mit ins Spiel bringt, das führt zu irrlichternden Effekten.

Und auch Christine, der gute Geist der Arztpraxis, die Doc den Rücken freihält, ist eine wichtige weibliche Bezugsperson – ohne dass Sexualität ein ausgesprochenes Thema wäre. Denn es geht eben um Bilder aus jener erst einmal etwas skurril anmutenden, aber durchaus konkret existierenden Schattenwelt, in der sich ein beträchtlicher Prozentsatz der Bevölkerung tummelt: Da ist das jugendliche Ungestüm längst abgehakt, die Wirbel der Rushhour des Lebens zwischen 35 und 55 auch, und allmählich tritt das zunächst fast unmerklich nahende Ende ins Blickfeld.

Füreinander unverzichtbar

Ein- oder zweimal im Jahr besucht der in Bonn lebende Brummer den Doc in Hamburg, und sie variieren dabei das Grundgefühl, dass sie sich eh alles schon gesagt haben, was sie zu sagen haben. Gerade deshalb sind sie füreinander unverzichtbar.

Im weiteren Verlauf des Textes bekommen sie immer genauere Konturen, und es entsteht ­gegen Ende sogar eine spezielle Dynamik, mit surreal wirkenden Aufschwüngen, die hautnah realistisch bleiben. Den Reiz des Romans bilden überhaupt die einzelnen, rasant einander ablösenden Szenen, die in ihrer absurden Komik, ihrer lustvoll verzerrten Wirklichkeit und ihren scharf umrissenen Personenskizzen etwas Bizarres und Märchenhaftes haben, aber gleichzeitig eine sehr differenzierte Gesellschaftsstudie bilden. Ihr Geheimnis ist, dass sie satirisch und melancholisch zugleich sind.

Da ist der Viagra-Mann, der in die Sprechstunde kommt und sein drohendes Erschlaffen mit kruden Auto- und Gaspedal-Vergleichen zu bannen versucht, da sind die vertrackten Modalitäten einer Palliativbetreuung, die mit einem undurchsichtigen Abrechnungshickhack einhergeht, oder auch der Moment in einem wieder auf offener Strecke zum Halt gekommenen ICE, in der der Brummer mit einer gleichaltrigen weiblichen Person Kontakt aufzunehmen versucht und sich in Insektenmetaphern verliert.

Sehnsuchtsbilder im Schrebergarten, abgelegte Gegenstände im Keller, in denen sich die Biografie verdichtet, oder versonnene Dialoge verweisen dabei immer auch auf eine Tiefendimension. Die „dritte Hälfte“ des Lebens, auf die der Titel Bezug nimmt, ist eine unsichere Größe, sie entzieht sich allen Berechnungen. Ein vielschichtiger Roman, der abgründig funkelt.

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