Roman über das Westberlin der 80er: „Ein Jahrzehnt des Umbruchs“
Misha Schoenebergs neuer Roman erzählt vom Lebensgefühl der 80er Jahre. Symbolbild für diese Zeit sind Rio Reiser und seine Band Ton Steine Scherben.
taz: Herr Schoeneberg, Sie haben schon verschiedene Bücher vom Krimi bis zu Reiseromanen geschrieben. Wie kam es nun zu diesem Rock-’n’-Roll-Märchen?
Misha Schoeneberg: Ich wollte bereits im Jahr 1981, als ich als Tourneebegleitung zu Ton Steine Scherben kam, ein Buch über Tour-Anekdoten schreiben. Doch wenn man unterwegs ist, erlebt man zwar viele Geschichten, kommt aber nicht dazu, sie aufzuschreiben.
Trotz wahrer Begebenheiten geben Sie Rio Reiser und sich selbst fiktive Namen. Warum?
Der Freund des Ich-Erzählers heißt in der Geschichte Till Traven, weil es anders unmöglich war, zu einer öffentlichen Person wie Rio Reiser, über den schon so viel geschrieben wurde und den ein jeder zu kennen glaubt, eine intime Nähe zu wahren. Der Name ist eine Anlehnung an den deutschen Autor B. Traven, der ja auch immer ein Rätsel blieb (B. Traven setzte zeitlebens alles daran, seine Identität anonym zu halten – Anm. d. Red). Ohnehin ist der Roman keine Rio-Bio, auch stehen nicht Ton Steine Scherben im Mittelpunkt des „Wunders“.
62, ist ein Berliner Autor und Songwriter. In den 1980er Jahren gehörte er Rio Reisers Musikkommune in Nordfriesland an und schrieb Liedtexte für den Sänger und Ton Steine Scherben. Sein Roman „Als wir das Wunder waren. Ein deutsches Rock-’n’-Roll-Märchen“ erscheint am Mittwoch.
Was dann?
Berlin. Genauer: Es geht um das Jahrzehnt der 80er Jahre in der untergegangenen Insel Westberlin. Es ist ein atemloser Ritt durch die Dekade voll Poesie, Politik, Liebe, Sex, Tod, Rausch, Drogen und vor allem eins: Musik! Es beginnt mit dem Neujahrstag 1980 auf dem Kreuzberg und endet am Brandenburger Tor Silvester 1989. Auch werden die politischen und historischen Ereignisse benannt, die unmittelbar das Lebensgefühl jener Tage prägten, sei es der Nato-Doppelbeschluss, die Pershing-II-Raketen oder der sich ankündigende Zusammenbruch der DDR.
Dennoch wählten Sie leicht zu dekodierende Protagonisten.
Ja, das ist nicht zu leugnen. Ich wollte kein Geschichtsbuch, sondern lieber etwas leicht zu Lesendes schreiben. Das ist auch eine große Ambition. Da es auch in der Geschichtsschreibung niemals wirkliche Objektivität gibt, erzähle ich bewusst ganz subjektiv aus der Sicht des Ich-Erzählers Joshua, der diese Zeit staunend erlebte.
Wie nahe ist der Roman dann an der Realität?
„Du musst ihnen Märchen erzählen, sonst gloobt dir keener!“, gab mir einst Wolfgang Neuss mit auf dem Weg. So bezieht sich jede Szene auf eine wahre Begebenheit. Auch habe ich versucht, die Sprache der Protagonisten entsprechend wiederzugeben. Diejenigen, die das Buch schon gelesen haben und betreffende Personen kannten, sagen, das sei mir gelungen.
Welche Rolle spielt Rio Reiser für den Roman?
Die Geschichte von Ton Steine Scherben wird immer mit den 70er Jahren verbunden. Die 80er wurden bisher so gut wie nicht erzählt. Es ist das Jahrzehnt des Umbruchs, im Großen wie im Kleinen. Es war das Ende des Kommunetraums. Rio startete eine Solokarriere. Insofern ist er auch eine Metapher für jenes Jahrzehnt.
Inwiefern?
Nun, der Unterschied des Rocksongs zum Schlager – so heißt es – sei seine Wahrhaftigkeit. Der Rocksänger wird an seinen Worten gemessen und man nimmt es ihm schnell übel, wenn sie nicht mit den Taten übereinstimmen. Das war eine Bürde, die Rio nicht nur erkannt hatte, sondern unter der er auch litt. Alkohol spielte dabei auch eine unglückliche Rolle.
Auf der Bühne hat man ihm das nicht angemerkt.
Ja, die Bühne war seine Zuflucht, da war er phänomenal. Backstage war er aber ein anderer. Die Diskrepanz zwischen der großen Hoffnung, die er besang, und der Wirklichkeit, die immer grauer wurde, zerriss ihn manchmal förmlich. In vielen Diskussionen habe ich ihm Mut zugesprochen, sich auch schwach zu zeigen, denn darin liegt wahre Größe. So ist der Blick des Ich-Erzählers in dem Buch auch immer der Blick auf einen großen, doch in sich zerrissenen Künstler.
Das klingt, als würden Sie durch den Roman mit den Erlebnissen dieser Zeit abschließen.
Es ist die Einlösung eines alten Versprechens. Das galt aber nicht Rio, sondern Huckleberry Finn, der im Buch zu entdecken ist. Es ist zwar kein Liebesroman, so geht es doch um die Liebe in ihren vielen Facetten. Und ist Liebe auch zeitlos, so ist das „Wunder“ zumindest der Versuch, die Zeit mit Rio, der trotz aller seiner Widersprüche ein unglaublich liebevoller Mensch war, in Würde und mit Hoffnung abzuschließen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen