Roman über Vergangenheitsbewältigung: Die schnelle Implosion des Glücks
Wie soll man ohne Kratzer leben? In ihrem Roman "Mein sanfter Zwilling" unternimmt Nino Haratischwili das Wagnis, ihre Figuren mit Leid und Leidenschaft auszustatten.
Zuweilen bedarf es einer Kraftanstrengung, das einstmals Erlebte und Erfahrene auf Distanz zu halten und ein tragfähiges Bündnis mit Gegenwart und Zukunft einzugehen. Gemeinhin nennt man diesen Vorgang Verdrängung - der Versuch, die inzwischen verschattete Erinnerung in Schichten des Gehirns zu verbannen, die nicht mehr so leicht zugänglich sind. Und sie mit neuen Erinnerungen zuzuschütten. Die Vergangenheit aber wird immer ihr Hintertürchen finden, um doch wieder in unsere gegenwärtige Heimeligkeit zurückzukehren. Die Vergangenheit ist, wie Christa Wolf einmal schrieb, eben nicht tot. "Sie ist noch nicht einmal vergangen."
Stella, die Hauptfigur in Nino Haratischwilis zweitem Roman "Mein sanfter Zwilling", hat sich eine Gegenwart geschaffen, die einem Zustand bürgerlicher Zufriedenheit sehr nahe kommen dürfte. Nach turbulenten Jahren ist die Mittdreißigerin mit einem erfolgreichen, gut aussehenden Mann verheiratet, der Dokumentarfilme fürs Fernsehen dreht. Der gemeinsame Sohn Theo ist sechs Jahre alt, fröhlich und aufgeweckt. Und Stella selbst schreibt für eine Zeitung Artikel und Essays. Sie hat gute Aussichten auf die Übernahme des Kulturressorts.
Wie dieses bilderbuchhafte Glücksensemble in Sekundenbruchteilen implodieren kann, erweist sich nach einem einzigen Anruf: Ivo sei zurückgekehrt, wird ihr mitgeteilt, nach sieben Jahren das erste Lebenszeichen des Stiefbruders und ehemaligen Geliebten. Mit Stella teilt dieser Ivo eine Geschichte, die man nur im ganz klassischen Sinne als tragisch bezeichnen kann und die Haratischwili mit großer Raffinesse nach und nach aufblättert.
Ivos Mutter Emma und Stellas Vater hatten einst, da waren die Kinder gerade einmal sechs, eine heimliche Beziehung. Dass und wie sie ans Licht kam, hat in den beiden Familien und bei den Kindern seelische Verwüstungen hervorgerufen, die immer wieder in und zwischen den Sätzen Haratischwilis beschworen werden. Emmas eifersüchtiger Ehemann erschießt seine Frau, kommt ins Gefängnis, und auch die Ehe von Stellas Eltern zerbricht an diesem Verbrechen. Ihr Vater wird zum haltlosen Streuner auf der Suche nach Abenteuern - "er opferte die sozialistische Karriere der seines Schwanzes" -, die Mutter zieht in die USA, und die Kinder werden von einer liebevollen Tante namens Tulja in Hamburg aufgezogen. Auch Ivo gehört fortan zur Familie, vielleicht ist er gar ihr heimliches Zentrum. Von allen geliebt, fast schon angehimmelt, als müsste an ihm etwas gutgemacht werden, was die Erwachsenen in rasendes Durcheinander gebracht haben.
Gemeinsames Schicksal
Das gemeinsame Schicksal, dem ein wahrlich traumatisierendes Moment zugrunde liegt, schmiedet Stella und Ivo zwillingshaft zusammen. Es ist eine Liebe, die aus einer unverstandenen Urszene erwachsen zu sein scheint; diese Liebe hat etwas Zwangsläufiges und Zwanghaftes zugleich. Es ist natürlich auch eine Liebe, die durch die Wendung in den Leben der beiden Kinder zu einer Wiedergutmachungsfantasie anwächst: An die Stelle der Unschuld des kindlichen Beisammenseins rückt durch die tödlichen Schüsse eine Erbschuld, die kaum auszusprechen, kaum jemals abzutragen ist. Es ist eine Bürde, an der Stella und Ivo gemeinsam zu tragen haben - und die ihnen so auf die Schultern drückt, dass sie zuweilen taumeln und nur noch aneinander Halt finden können.
Wenn doch so etwas wie Stabilität einkehrt, Stella sich in ein Leben hineinbegibt, das Ruhe verspricht, dann taucht aus dem Inneren das Verdrängte mit aller Macht wieder hervor: "Irgendetwas in mir sehnte sich nach Chaos, nach dem Gefühl des Fallens, nach der Klarheit, die eintreten würde, wenn ich den Sturm überlebte. Die Angst zerrte an mir, rupfte an meiner Haut und nahm mir den Atem." Der Sturm ist, wenn wir diese Geschichte erzählt bekommen, bereits schon vorübergezogen. Wir lesen dieses Drama aus der verzerrten, wütenden, verletzten Perspektive von Stella als ein geschehenes. Wir wohnen einem Schicksal bei, das sich bereits erfüllt, das seine Protagonisten bereits in eine Hölle gezogen oder in eine andere Zeitordnung katapultiert hat. Und hören Stella dabei zu, wie sie als eine Versehrte, aber Überlebende aus dem Chaos hervorgeht.
Der Schmerz, den vor allem Stella verspürt, ist ein ganz körperlicher. Die Intensität von Haratischwilis Sprache - die zugleich auch immer die Gefahr birgt, in die Nähe des Gefühlskitsches zu geraten - zeigt sich am prägnantesten in der Beschreibung der Wunden ihrer Protagonistin. Die Verletzung ist so stark, dass sie nur durch immer stärkeren Schmerz anästhetisiert werden kann. Ziemlich zu Beginn des Buches wird ein Liebesakt mit Stellas verständnisvollem, perfektem Mann geschildert: "Ich hasste ihn für seinen verschonenden Sex, für seine klaren Lebensprinzipien, für seine warmen Hände, seine verständnisvolle Art, seinen ausgeprägten Verantwortungssinn, seine Schuldlosigkeit. Und ich hasste mich noch mehr, weil ich mich gleichzeitig nach dem Schmerz sehnte, nach der Möglichkeit, meine Schuld erneut bestätigt zu bekommen, mich weiterhin verletzen zu dürfen."
Bei ihrem Ehemann, der wohlbehütet aufgewachsen ist, sucht sie vergeblich nach den Ecken und Kanten, an denen sie sich spüren könnte. Als sie wenig später mit Ivo zusammen ist, ihn verzweifelt liebt, erfährt sie die Rauheit, die sie bei ihrem Mann vermisst: "Und meine Abdrücke auf ihm suchend, fand ich mich überall: in dem kleinen Fleck unter der Brustwarze, neben dem Kratzer am Bauchnabel, an seiner kleinen Narbe am Kinn."
Aus diesem Dilemma, das im Körperlichen nur seinen Ausdruck findet, schält sich eine Frage, die für Stella unbeantwortet bleibt: "Wie lebt man ohne Kratzer?" Die eigenen Wünsche und die Sehnsucht, so eng gekoppelt an einen anderen Verwundeten, ihren Spiegelcharakter Ivo, scheinen sich nur im Zerschneiden aller Bande zu erfüllen - und sie werden dadurch zugleich zerstört, weil die Wünsche und Sehnsüchte eben zugleich eine tiefe Angst vor dem Erkennen des furchtbaren Abgrunds beinhalten, in die beide geschaut haben.
So nimmt es nicht wunder, dass Stella - wie nach einem vorgeschriebenen Muster - immer wieder ihre geordnete Lebensbahn verlassen muss, um Ivo zu folgen. Sie fügt sich und anderen Schmerz zu, um eine Schuld abzuarbeiten. Um die Vergangenheit wenn nicht überwinden, so doch besiegen zu können. Es gelingt natürlich nicht.
Eine Reise in die Vergangenheit
Die Wahrheit, das fehlende Puzzleteil zu dem Drama dieser Familiengeschichte, ist gut versteckt. Zumindest ist es schwer für Stella, es sich bewusst zu machen. Es fügt sich erst ein im zweiten Teil des Buches, der in Georgien spielt, einem kriegsversehrten Land, der ursprünglichen Heimat der Schriftstellerin Nino Haratischwili. Dorthin reist der erfolgreiche Reporter Ivo, um eine Geschichte zu recherchieren. Und er lässt Stella nachkommen - sie verlässt, in einer Wiederholung des eigenen Verlassenwordenseins, Mann und Kind und folgt Ivo fast bewusstlos in die Fremde. Sie ahnt zunächst nicht, was diese Reise mit ihrer Vergangenheit zu tun haben soll. Aber zusehends wird deutlich, dass die Story, der Ivo auf der Spur ist, eine Spiegelung von Stellas und seiner eigenen Geschichte ist.
Wenn die Wahrheit - und damit auch das Trauma - schon nicht ausgesprochen werden kann, so soll sie doch in vermittelter Form aufscheinen. Stella ist Spielball ihrer Sehnsucht und Ivo ein ewig Getriebener. Beide suchen sie nach Erlösung. Dass es die nicht geben kann, wird am Ende schmerzhaft deutlich. Die einmal erlittenen Verheerungen ziehen weiteres Unheil nach sich. Es gibt kaum ein Entkommen. Und doch den nie endenden Wunsch, dass die Schuld enden soll. "Sie soll ausgelöscht werden. Obwohl ich weiß, dass es unmöglich ist, will ich es versuchen. Ich will es versuchen, auch weil Ivo es versucht hat."
Mit welcher Genauigkeit die 1983 in Tiflis geborene Nino Haratischwili diese Tragödie entwickelt, auffächert, zu einem konsequenten Schluss führt, ist beeindruckend. Vielleicht hätten manche Passagen konzentrierter erzählt werden können, vielleicht hätten auch manch sprachliche Kapriolen gestutzt werden dürfen - etwa wenn eine hoffnungsfrohe Zukunft "nach Zuckerwatte, Bratäpfeln und Karussell schmeckte". Aber als literarische Konstruktion und im Wagnis, ihre Figuren mit wirklichem Leid und gehöriger Leidenschaft auszustatten, ist "Mein sanfter Zwilling" ein sehr besonderes Buch.
Es ist ein Roman darüber, dass es die Gegenwart ohne die Vergangenheit nicht geben kann. Dass das Glück brüchig ist, wenn es den Schmerz nicht zulässt. Und dass der Schmerz jedes Glück unmöglich macht. Die Wahrheit, nach der sich die Figuren sehnen, ist schließlich eine tödliche. Aber vielleicht findet, das Ende lässt das offen, zumindest Stella ihren Frieden.
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