Roman über Flucht: Scherze eines Gedächtnisses

In seinem Roman „Der Erinnerungs­fälscher“ spielt Autor Abbas Khider mit Wahrheit und Erzählung – und ebenso mit den Erwartungen des Lesenden.

Portrait von Abbas Khider.

Abbas Khider, 1973 in Bagdad geboren, floh 1996 aus dem Irak Foto: Peter-Andreas Hassiepen

Es kommt dann der Moment, in dem sich der Erzähler, der sich seiner Erinnerung nie sicher sein kann, erinnert an den einen Satz, den ihm seine Mutter mit auf den Weg gegeben hat, bevor er aufbrach in die Fremde.

Die Mutter, so erinnert es jedenfalls ihr Sohn, der sich, wie gesagt, niemals sicher ist, ob das, was er da erinnert, tatsächlich so passiert ist, und der auch gern noch einmal eine zweite oder gar dritte Version derselben Begebenheit in seiner Erinnerung abgelegt hat, soll ihm, so diese Erinnerung, seinen Rucksack gegeben haben, in dem alles war, was er aus Bagdad mitnahm, und ihm dann ins Ohr geflüstert haben: „Komm nie wieder zurück!“

Said, so erzählt es Abbas Khider in „Der Erinnerungsfälscher“, hält sich nicht an den Rat seiner Mutter. Wir schreiben das Jahr 2014, Said lebt bereits Jahrzehnte in Deutschland, er hat eine Familie gegründet, seine Karriere als Schriftsteller beginnt langsam Fahrt aufzunehmen, aber er bekommt einen Anruf aus Bagdad. Die Mutter liegt im Sterben, und er beschließt kurzentschlossen, den nächsten Flug nach Bagdad zu nehmen, um sie noch einmal zu ­sehen.

Abbas Khider: „Der Erinnerungsfälscher“. Hanser Verlag, München 2022, 128 Seiten, 19 Euro

Dies ist die Handlung von Khiders fünftem Roman, aber natürlich nur der Rahmen. In Rückblenden erzählt Khider schlaglichtartig von Saids schwieriger Flucht und dem in gewisser Weise noch schwierigeren Ankommen in Deutschland für einen Geflüchteten. Dabei enthüllt der sprachlich an sich eher schmucklose Text eine Er­zähl­ebene nach der anderen, hebt immer wieder neue Bedeutungszusammenhänge und öffnet mehr und mehr Bezüge zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Diskussionen.

Was ist Heimat?

Wie im Vorübergehen streift der Text wichtige Fragen, die die Gemüter hierzulande erhitzen, allerspätestens seit dem sogenannten Flüchtlingssommer des Jahres 2015, der im Roman noch eine vage Ahnung ist. Fragen wie: Was ist Heimat? Khider gibt auf keine der Fragen, die sein Roman aufgreift, eine letztgültige Antwort – wie sollte er auch. Aber er ergänzt die Dis­kus­sio­nen – wie auch schon mit seinen bisherigen Romanen – um eine weitere, eigentlich zentrale, aber allzu oft vernachlässigte Perspektive und Erfahrungswelt, nämlich die der Geflüchteten selbst.

Er ergänzt die Diskussionen um eine eigentlich zentrale, aber vernachlässigte Perspektive und Erfahrungswelt, nämlich die der Geflüchteten selbst

Der Begriff Heimat, lässt Khider seinen Helden denken, „machte ihn regelrecht krank“. Nicht, weil er nicht weiß, wo seine Heimat ist, oder ob ein Leben zwischen zwei Heimaten möglich ist, sondern ganz einfach, weil der Diktator des Landes, das er einst aus Angst vor dem Schreckensregime dieses Diktators verlassen hat, Hunderte Male im Rundfunk „Heilige Heimat!“ rief.

Die eine Heimat hat Said nicht nur verlassen, sondern auch verloren, denn er erkennt sie nicht wieder auf den wenigen Besuchen seit seiner Flucht. Die neue Heimat aber macht es ihm schwer anzukommen, auch immer noch, als er längst einen deutschen Pass, einen ehrenwerten deutschen Beruf als Dichter, eine deutsche Ehefrau namens Monica und eine schöne typische deutsche Kleinfamilie sein Eigen nennen darf.

Selbst als die Erinnerung immer mehr verblasst, er „die Fremde mitten in Bagdad mächtiger als in fernen Ländern“ spürt und seine Familie dort für ihn „nur eine Nachricht in der Tagesschau“ ist. Selbst als er beginnt, mit Monica nur mehr seine deutschen Probleme zu teilen, und seine Vergangenheit und seine Wurzeln in sich begräbt und verleugnet, als hätte er „eine Affäre, von der keiner erfahren soll, eine mit sich selbst“.

Zu anders für die weißen Gesetzeshüter

Aber selbst dann, das lässt ihn die neue Heimat spüren, kann er kein Deutscher sein: In Brandenburg erwarten ihn „verdrossene Gesichter“, die ihn ansehen, „als wäre er ein ekelerregender Pickel“. Aber auch in den Großstädten ist „ein Mann mit arabischen Namen in einem deutschen Reisepass“ immer noch oft „zu viel für die Wahrnehmungsorgane der weißen Gesetzeshüter“.

Die Folge dieses Lebens, das eben kein Leben in zwei Welten sein kann, sondern – im wahrsten Sinne des Wortes – eines im Leerraum zwischen diesen beiden Heimaten bleiben muss, ist, dass „Said noch immer jemand ist, der der Welt nicht traut“. Und der zuletzt auch seiner eigenen Erinnerung nicht traut.

Er selbst diagnostiziert bei sich eine „schwere Gedächtnisstörung“, und ein Arzt schickt ihn gleich zum Psychologen, denn „wenn ein Migrant mit etwas kommt, das man in Deutschland nicht begreift, nennt man es Trauma. Was soll man tun, wenn das ganze Leben ein einziges Trauma ist? Soll man das Leben in ein „Behandlungszentrum für Folteropfer“ schicken?“

Dieses Trauma der Flucht, der Migration, ist natürlich ein großes Thema, aber Khider lässt keine Therapeuten, keine Sozialarbeiter, erst recht keine Politiker zu Wort kommen, sondern bricht es herunter auf die Erfahrung eines Betroffenen. Und der hat gute Gründe, sich nur mehr selektiv zu erinnern, denn „es gibt Orte im Gedächtnis, die sind wie Minenfelder, sie können einen in Stücke reißen“.

Eine wahre Geschichte, die nicht wahr ist

Mal umschifft Khiders Romanheld diese Orte, mal sucht er sie gezielt auf, denn er schreibt Kurzgeschichten, schreibt selbst Romane, alles „Versuche, eine einzig wahre Geschichte zu schreiben, nämlich seine, die niemals wahr sein kann“. Dabei hilft ihm Patrick Süskinds Roman „Die Taube“, der auch von einem Traumatisierten handelt. Das Buch geht ihm in verschiedenen Ausgaben während seiner Flucht immer wieder verloren, aber kommt auch immer wieder zurück – einmal in einem Gefängnis in Athen.

Aber ist das wahr? Was ist wahr? Was kann überhaupt wahr sein? „Er hofft, dass alles so war“, sagt Khider über seinen Helden, der zweifellos allerhand aus Khiders eigener Biografie, der auf seiner Flucht elf Mal verhaftet wurde, erinnert oder schon vergessen hat.

Durch das Spiel mit den vielen Schichten der Erinnerung, die „Scherze seines verspielten Gedächtnisses“, wird die Geschichte der Flucht zu einem Märchen. So wird die bittere, menschenfeindliche Realität der Flucht erträglich, ja nahezu weichgezeichnet – für den Geflüchteten selbst, aber auch für den Lesenden.

Trotzdem – oder wohl gerade deshalb – entwickeln die einzelnen Erinnerungssplitter eine extreme Wirkkraft, kleine Details brennen sich ein, so wie die – vermeintliche oder tatsächliche – Erinnerung Saids an ein Erlebnis in einem Bagdader Bus, den der Fahrer, der eben noch lauthals romantische Liebeslieder mitsang, stoppt, um einen Morgenstern unter seinem Sitz hervorzuholen und damit einen Wagen, der ihn geschnitten hat, zu Klump zu hauen.

Gruseliger als alle Zeiten davor

Aber selbst diese Erinnerung an das vollkommen gesetzlose Bagdad der Warlords, an diese „fremde Welt, gruseliger als in der Zeit der Diktatur und gruseliger als im Chaos der amerikanischen Soldaten“, nimmt trotz ihrer Vehemenz und Brutalität einen märchenhaften Charakter an.

Aber, und das ist die große Kunst von Khider, „Der Erinnerungsfälscher“ spielt nicht nur mit Wahrheit und Erzählung, Dichtung und Realität, sondern ebenso geschickt mit den Erwartungen des Lesenden, der sich gerade denkt: Eigentlich ist das doch ein Märchen. Selbst diese Assoziation nimmt Khider in einer Art vorauseilender Klischeevermeidung vorweg, wenn er einen von Saids Kommilitonen sagen lässt: „Ihr Orientalen seid alle Märchenerzähler!“

Wer aber kann sagen, ob dieser Satz jemals gefallen ist – in Saids Romanleben, in Abbas Khiders echtem Leben oder sonst irgendwo auf dem Weg von Tausenden zwischen Bagdad und Berlin? Aber sicherlich, natürlich ist dieser Satz gefallen, mehr als einmal – und das ist die Wahrheit, nichts als die Wahrheit.

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