Roman „Was rot war“ von Enrico Ippolito: Wofür das Herz schlägt
Der Journalist Enrico Ippolito verbindet in seinem Debütroman eine Familiengeschichte mit einer Reise zum italienischen Kommunismus.
„In der ehemaligen Zentrale der Kommunistischen Partei sind jetzt alle möglichen Bank- und Finanzunternehmen angesiedelt? Sagen Sie mir das gerade?“
„Genau, mein Junge, warum wundert dich das?“
Hätte den 1982 geborenen Enrico Ippolito nicht nachträglich verwundert, was da beerdigt wurde, die bedeutendste kommunistische Partei Westeuropas nämlich, sein Held Rocco würde sich nicht Jahrzehnte später in der ehemaligen Zentrale dieser Organisation als geschockter Besucher wiederfinden.
Diese sentimentale Reise, diese Erkundung einer Familiengeschichte, diese historische Spurensuche nach der Kommunistischen Partei Italiens (PCI), die in der Eingangsfrage des Protagonisten steckt – das ist eine der zwei Ebenen, die ich im literarischen Debüt meines ehemaligen taz-Kollegen Enrico Ippolito erkennen kann. Der italienische Schriftsteller und Mussolini-Biograf Antonio Scurati hat die Sehnsucht nach dem verlorenen populären Kommunismus eine „Welt von Kindern und von Alten“ genannt, „es fehlen die Erwachsenen“ – denn die müssen Geld verdienen, oder sie sind tot.
Durchweg lebendigstes Jetzt
In „Was rot war“ ist erst der Vater gestorben. Der war in den 1980er Jahren als Funktionär des PCI nach Köln geschickt worden, um die dortige italienische rote Gemeinde zu betreuen. Mit ihm, Antonio, kam seine Frau, die Mutter Roccos, mit dem wunderbar sizilianischen Namen Crocifissa, genannt Cruci. Kennen- und lieben gelernt haben sich die beiden in den späten 1970er Jahren an der kommunistischen Parteischule Istituto di Studi Comunisti Palmiro Togliatti in Frattocchie nahe Rom. Roccos Vater ist aber nicht der einzige, um den getrauert wird.
Enrico Ippolito: „Was rot war“. Kindler Verlag, Hamburg 2021, 288 Seiten, 20 Euro
„Lucia ist tot. Ich habe es gestern erfahren.“
„Wer ist Lucia? Warum hast du mir nie von ihr erzählt?“, frage ich.
„Es ist eine lange Geschichte.“
Eine Dreiecksgeschichte, die wir dann als historischen Roman aufbereitet bekommen; und zwar mit einer Plastizität, die bei einem Debüt unbedingt überrascht. Selbst bei einer der aktuellen Großmeisterinnen dieses Genres, bei Francesca Melandri, gibt es Szenen, wo man denkt: Mhm – das glaub ich jetzt nicht so, das wirkt thesig, nicht erzählt. Enrico Ippolito macht aus dem Vergangenen durchweg lebendigstes Jetzt, etwa wenn Cruci in Palermo anruft, wo ihrer sizilianischen Mutter natürlich nichts verborgen bleibt:
„Hier ist alles ganz gut Mama. Ich habe eure letzte Postkarte bekommen, vielen Dank. Ich vermisse Palermo so sehr, euch auch. Nein, ich weine nicht; nein, ich werde auch nicht sentimental, ich wollte nur so anrufen, um deine Stimme zu hören. Nein, das ist kein Heimweh, einfach nur so, ich bin nicht seltsam. Darf eine Tochter nicht einfach mal ihre Mutter anrufen, ohne bestimmten Grund? Warum muss alles immer einen Grund haben? Das stimmt nicht, ich wechsle nicht das Thema, aber hier in der Schule geht es nicht zu wie in deinen kitschigen Liebesromanen. Ich weiß das, aber so ist es nicht, ich bin hierhergekommen, um zu studieren und mich auf die Inhalte der Partei einzulassen. Mama, willst du unbedingt, dass ich einen Mann kennenlerne?“
Liebe und Schuldgefühle
Da hat Cruci ihren Mitschüler Antonio aber eben schon so ins Herz geschlossen, dass für beide ohne einander nichts mehr geht, was nicht bedeutet, dass sie der Partei untreu werden wollen; auch wenn es der nicht gut geht. Lucia, Crucis nicht uneifersüchtige Freundin und Mitschülerin aus römisch-großbürgerlich-kommunistischem Elternhaus – eine PCI-Spezialität –, sieht diesen Niedergang ganz klar, es ist das ewige „langsam“ und „viel Geduld“, mit dem die bürokratische Organisation hilflos auf eine immer schneller sich wandelnde Realität reagiert.
Womit wir auch zur zweiten Ebene kommen, zur nicht links-melancholischen; zur Frage, was Rocco denn nun eigentlich in der Gegenwart der Romanhandlung will, außer mit seiner Mutter zu Lucias Begräbnis nach Rom zu fahren, weil er seine Mutter sehr liebt, aber auch Schuldgefühle der Vernachlässigung ihr gegenüber hat, und weil die Liebe zu seiner Mutter nicht zu trennen ist von deren enttäuschter Liebe zu Lucia und zum „Bottegone“, zur nun verramschten Zentrale der Kommunistischen Partei, wo der Pförtner ihn fragt: „Genau mein Junge, warum wundert dich das?“
Die Antwort scheint mir zu sein, dass es darauf keine Antwort gibt. Die Nebenhandlung, in der Rocco im heutigen Rom eine Liebesaffäre beginnt, korrespondiert eher mit einer zweiten möglichen Deutung des Titels, die nicht politisch ist, aber deswegen auch nicht unpolitisch sein muss: „Was rot war“, ist ja eben auch die Leidenschaft, die immer wieder droht vom Alltag verschüttet zu werden und die immer wieder neu entsteht, zwischen den Polen Hass und Liebe, wie Cruci das im Roman sagt.
Individualität und Kollektiv
Letztlich beschreibt Enrico Ippolito eine vergangene Epoche, in der Individualität zugunsten der guten kollektiven Sache unterdrückt wurde, aus der Perspektive der Gegenwart, in der das egoistische Ich beständig eine offensichtlich sinnlos-sentimentale Hoffnung auf eine neue Kollektivität unterdrücken muss: weil das Individuum anders im beinharten Neoliberalismus nicht bestehen kann beziehungsweise weil es sich schlicht nicht selbst betrügen will.
Enrico Ippolito hat einen Roman über eine der großen Hoffnungen der Menschheit geschrieben. Er selbst hat außer der Liebe kaum Hoffnung anzubieten – aber das muss ja nicht so bleiben.
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