Roman „Rückkehr nach Fukushima“: Eine Wunscherfüllung
Adolf Muschg schreibt in seinem Roman über Liebe und Landschaft. Dabei webt er ein dichtes Netz aus Zeit, Text, Gemeinschaft und Nachkommenschaft.
Es gibt Orte, die zur großen Chiffre der menschgemachten Katastrophe werden. Hiroshima, Tschernobyl oder Fukushima, Orte der Hybris, an denen menschliche Technik Vernichtung in mythischer Dimension anrichtet. In Fukushima wird so bald nichts mehr wachsen. Der einst fruchtbare Boden lagert in Müllsäcken. Auf ewig?
Ausgerechnet diese Mondlandschaft besucht der Architekt Paul Neuhaus auf Bitte des japanischen Übersetzers seines Bucherfolgs „Hier und Jetzt“. Die Landschaft, einst Heimat, soll wieder besiedelt werden.
Der Architekt mit dem sprechenden Namen Neuhaus wurde in seiner Heimat soeben von seiner Frau verlassen; nichts hält ihn. Der nicht mehr ganz junge Mann, der den Höhepunkt geistiger Potenz erreicht, die Klimax körperlicher Potenz allerdings überschritten hat, begibt sich auf Aventiure. Nie fühlt man sich lebendiger als an Orten, die mit dem Tode bedrohen. Mitsu, die ihm zur Seite stehende Dolmetscherin, wird Paul bald mehr sein als Verständigungshilfe. Ganz unaufgeregt entfaltet sich eine Liebesgeschichte zwischen alterndem Autorarchitekten und junger Übersetzerin, im knackenden Takt der Geigerzähler.
Auf strahlendem Grund vollzieht sich die Vereinigung von Paul und Mitsu, als grotesk-komischer Ritt auf dem Vulkan, der der alte Mann ist. Vielleicht, weil sexuelle Vereinigung das unbedingte Da-Sein im Hier und Jetzt voraussetzt? Wen kümmert da der Krebs der Zukunft! „Paul und Mitsu haben nicht so viel Zeit. Aber vor einem uferlosen Horizont, wo Raum und Zeit verwehen, wird es müßig, um ein paar Jahre mehr oder weniger zu markten.“
Adolf Muschg: „Heimkehr nach Fukushima“. Beck Verlag, München 2018, 244 Seiten, 22 Euro
Ist das nicht ein bisschen abgeschmackt, eine Lovestory zwischen älterem Herrn und junger Frau? Unbedingt! Dass sie Adolf Muschg trotzdem erzählt, verweist auf die Funktion des Schreibens. „Warum schreiben Sie?“, so lautet ja die ständige Frage des Lesers an den Schreibenden, und Muschg versuchte, sie im Rahmen seiner Frankfurter Vorlesungen „Literatur als Therapie?“ zu beantworten. Man muss aber weder Autor noch Psychoanalytiker sein, um zu verstehen, dass Literatur dem Träumen nicht unähnlich ist. Wir haben es, natürlich, mit Wunscherfüllung zu tun.
Muschgs Roman webt ein dichtes Netz aus den Motiven Zeit, Text, Gemeinschaft und Nachkommenschaft. Unentwegt liest sein Protagonist in Adalbert Stifters Erzählband „Nachkommenschaften“. Es geht um die symbolische Nachkommenschaft Stifters; es geht aber auch um biologische Nachkommen: Mit seiner Frau Suzanne hat Neuhaus keine Nachkommen, und Nachkommenschaft wird auch auf dem eingetüteten Mutterboden von Fukushima nicht mehr entstehen.
Die ausführlich zitierten Passagen aus Stifters Werk, in denen es um Landschaftsmalerei geht, unterstreichen das übergeordnete Thema Zeit: Der Landschaftsmaler hält den Augenblick fest. Seine Kunst offenbart sich dem Auge des Betrachters auf einen Blick. Seit Lessing gibt es ja die Unterscheidung zwischen der Erzählung als Zeitkunst – weil sich der Text Zeile für Zeile, Seite für Seite entfaltet – und der bildenden Kunst, die sich dem Auge unmittelbar aufdrängt.
Andererseits: Das Hier und Jetzt ist die Sache der Architekten und Autoren eigentlich nicht. Immerzu schreiben sie sich in die Zukunft ein, setzen Zeichen wie Stelen, die hoffentlich noch lange nach ihrem Tod gedeutet werden. Der Autor und Architekt Neuhaus, einem Max Frisch gleich, mit dem Muschg einst aus Protest gegen reaktionäre Kräfte aus dem Schweizer Schriftstellerverband austrat, ist auch der Idealprotagonist eines Alterswerkes. So darf man „Heimkehr nach Fukushima“ wohl nennen, immerhin ist Muschg inzwischen 84 Jahre alt. Der verzweifelte Versuch der Landgewinnung in Fukushima erinnert durchaus auch an das vergebliche Streben von Goethes Faust.
Eine vollkommene kurze Zeit
Der Verweis auf Faust öffnet den Blick für die Zeit der Gegenwart: Muschgs Text ist ein Abgesang auf die Technofortschrittsgläubigkeit der Gegenwart und träumt von halkyonischen Tagen. „Halkyonisch“, das ist eine Chiffre für eine vollkommene, kurze Zeit. Leben im Hier und Jetzt. All das wird Botho-Strauß-Lesern bekannt vorkommen, nur trägt es Muschg ohne straußsche Verbissenheit vor.
Bei Strauß findet sich stets die grimmige Sehnsucht nach einer anderen Zeitordnung, sie soll die Rückkehr zum verlorenen, goldenen Zeitalter ermöglichen. Bei Muschg aber öffnet sich der Blick auf eine strahlende Zukunft. Die japanische Kultur, mit Beharrungsvermögen ausgestattet wie kaum eine andere, kann der linearen Kettenreaktion, die nicht mehr aufzuhalten ist, vielleicht doch etwas entgegensetzen.
Muschgs Roman ist ein sprachliches und erzählerisches Kunstwerk. Die Texte im Text verweben sich zu einem Hypertext aus literarischen Verweisen. Wie der Autor und Literaturwissenschaftler Muschg – mal in groben Strichen, mal in fein ziselierten Details – von seinem Protagonisten erzählt, erinnert, natürlich, an die Kunst des Landschaftsmalers, der seinen Duktus dem Sujet anzupassen weiß. Stifter stiftet doppelt: Als sprachliche und malerische Referenz, mithin als Sinnbild für das Erzählen in groben und feinen Pinselstrichen.
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