Roman „Notstand“ von Daisy Hildyard: Spuren des Unheils
Zwischen Klima- und Strukturwandel: Daisy Hildyard erzählt in ihrem zweiten Roman „Notstand“ von kleinen Tragödien, die auf große Katastrophen hindeuten.
Das Unglück bringt die Menschheit enger zusammen. Katastrophen globalen Ausmaßes, wie sie sich seit Anfang des letzten Jahrhunderts häufen, führen auch zu einer neuen Sicht auf das Verhältnis scheinbar isolierter Ereignisse und das, was wir verlegen „Welt“ nennen.
Kriege verbinden weit entfernte Regionen, lassen sie Partner- oder Feindschaften eingehen. Blockierte Handelsrouten oder regionale Immobilienblasen verursachen Wirtschafts- und Finanzkrisen. Und Pandemien provozieren ganz neue Perspektiven auf das persönliche Verhalten.
Vor allem Corona und die Klimaerwärmung werden vielfach als Kräfte maximaler Entgrenzung beschrieben, insofern sie die Entfernung zwischen dem Singulären und Situativen sowie dem Planetaren einebnen.
In Bezug auf das Klima gilt für die heute Lebenden, dass Fragen danach, was sie konsumieren oder wohin und wie sie reisen, nicht ohne Politik, nicht ohne Moral zu haben sind, steht doch längst außer Zweifel, dass alles mit allem zu tun hat. Genau das ist auch die Kernaussage des Romans „Notstand“ der britischen Autorin Daisy Hildyard.
Daisy Hildyard: „Notstand“. Aus dem Englischen von Esther Kinsky. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024, 237 Seiten, 25 Euro
Beinah noch vor dem Klimawandel
Ihre Erzählerin sitzt während des Lockdowns in einer Wohnung in der Stadt und blickt zurück auf ihre Kindheit in einem kleinen Dorf im Norden Englands. Als Grundschülerin streift sie durch Wald und über Wiesen, hilft beim Bauern im Kuhstall aus und beobachtet Wildtiere. Es sind die Neunziger, das letzte Jahrzehnt, in dem der Klimawandel zwar bereits längst bekannt war, aber noch keinen großen Widerhall in Politik und Gesellschaft fand.
Nunmehr, im Rückblick, sind da mit einem Mal überall die Spuren der großen Welt zu erkennen – und die eines kommenden Unheils. Da sterben die Bäume ab, da kämpfen Füchse, Mäuse und Kiebitze in den Nischen von Landwirtschaft und Bergbau um ihre Existenz.
Da verlieren die Männer im Dorf ihre Jobs in einem von einer kanadischen Firma betriebenen Steinbruch, weil eine Planstadt in China zu Ende gebaut wurde und sie dort keinen Kies mehr benötigen. Da heuert eine Bekannte auf einer Ölbohrinsel an, weil ihre Stelle bei der Feuerwehr gestrichen wird. Die einzige lokale Jobalternative wäre ein Job in der Massentierhaltung gewesen.
Das Idyll des Landlebens erweist sich als prekär. Die junge Protagonistin könnte, so scheint es, auf ihren Streifzügen jederzeit einbrechen und in einer nahen Katastrophe wieder auftauchen. Hildyard hat die Perspektive für ihre Geschichte clever gewählt.
Als Kind ist die Erzählerin ständig in der Position, zu wenig zu wissen, um eine Situation ganz zu erfassen. So bleiben zum Beispiel die Persönlichkeiten und Verhältnisse der Erwachsenen zueinander in diesem Buch oftmals unklar und verwirrend. Die Pointe an diesem Spiel mit der Wahrnehmung ist, dass die Elterngeneration dieses Dorfes wiederum keinen Blick für die Veränderungen in der Natur hat.
Annäherung aus der Distanz
Sprachlich ist der Roman sauber und genau gearbeitet. Hildyard schreibt schnörkellos, mitunter fast kühl, kann aber Landschaften und Situationen sehr präzise und plastisch zeichnen. Man nähert sich ihren Bildern aus der Distanz, vermisst vorsichtig und Schritt für Schritt Dorf und Umland. Mit Esther Kinsky hat sie für ihre ersten auf Deutsch erschienen Roman wohl die ideale Übersetzerin gefunden, kennt man doch auch von ihr als Autorin ähnliche Geländegänge („Hain“, „Rombo“).
Als „Schule des Sehens“ bewirbt der Suhrkamp Verlag das Buch. Lesend soll man sich hier sensibilisieren für die Verbindungslinien, für die globalen Schuldverhältnisse, die täglich vor den eigenen Augen anfallen, auch für die, die man selbst zu verantworten hat. Dieses Programm des Romans ist aber auch ein bisschen sein Problem, kommt eine Schule doch nicht ohne Didaktik aus.
Man fühlt sich schon ein bisschen belehrt. Zudem fordert der Roman große Konzentration, ist viel Handlung hier doch nicht zu erwarten. Das dramaturgische Mittel der Wahl ist die Addition, es passiert etwas und dann passiert das Nächste. Was wohl für immer so weiter gehen könnte, endet nach gut 200 Seiten dann überraschend plakativ.
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