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Roman „Euphoria“ von Lily KingKoitus der Seelen

In ihrem Roman „Euphoria“ lässt sich die Schriftstellerin Lily King von den ethnologischen Forschungen Margaret Meads in Neuguinea inspirieren.

Dieser Stamm ist – im Unterschied zu den Ethnien in „Euphoria“ – nicht fiktiv: Duk-Duk-Tänzer mit Kostümen in Neuguinea. Foto: Archiv

Auch die produktivsten Wissenschaftler haben mal eine Schreibblockade. Die Ethnologin Nell Stone etwa, eine der drei Hauptfiguren in Lily Kings Roman „Euphoria“, beginnt eines ihrer zahllosen Notizbücher mit dem lakonischen Datum „3.1.“ Gefolgt vom Eintrag: „4.1. Mir gestern dieses neue Heft genäht & mich dann von all den frischen leeren Seiten einschüchtern lassen.“

Das ist einer der erstaunlichen Sätze in diesem Roman, denn Stone ist ansonsten geradezu besessen vom Beobachten und dem Festhalten ihrer Eindrücke, möglichst ungefiltert, was in der Regel zu manischem Schreibverhalten führt.

Stone ist im Jahr 1933 mit ihrem Mann Fen auf Forschungsreise in Neuguinea unterwegs und hat dort den britischen Kollegen Andrew Bankson kennengelernt. Bankson steckt in einer wissenschaftlichen Krise, seine Forschungen über die Kiona – wie alle Stämme im Roman eine fiktive ethnische Gruppe – am Fluss Sepik kommen nicht voran, er ist schwer depressiv und hat gerade einen Selbstmordversuch hinter sich. Stone und ihr Mann waren zuvor bei dem Stamm der Mumbanyo, mit denen sie schlechte Erfahrungen gemacht und sich darüber wissenschaftlich fast entzweit haben.

Die Begegnung von Stone und Bankson ist in mehrerer Hinsicht folgenreich: Beide befruchten sich intellektuell, finden aber auch sonst Gefallen aneinander. Zunächst registrieren sie ihre Zuneigung eher beiläufig, schon bald aber wird aus der Sympathie echte Leidenschaft, die der äußeren Umstände wegen, so gut es den Beteiligten möglich ist, geheim gehalten wird.

Lily King, "Euphoria"

Lily King: „Euphoria“. Aus dem Englischen von Sabine Roth. C. H. Beck Verlag, München 2015. 262 Seiten, 19,95 Euro

Lily King hat sich bei der Handlung von den Forschungsreisen Margaret Meads und ihrer beiden Ehemänner Reo F. Fortune und Gregory Bateson anregen lassen, die 1933 tatsächlich am Sepik zusammentrafen – damals war Mead mit Fortune verheiratet. Einige der theoretischen Debatten, die das Trio Stone, Fen und Bankson führt, sind zudem von den Arbeiten Meads und Batesons inspiriert.

Erkundungen ihrer selbst

Im Übrigen gestattet King ihren Figuren ein poetisches Eigenleben, das sich nicht sonderlich streng an die Vorbilder hält. Man folgt ihnen gebannt zu den Kiona und den Tam und bei den Erkundungen ihrer selbst. Und ist froh, beim Lesen von den diversen Insekten verschont zu bleiben, die Stone, Fen und Bankson regelmäßig bedrängen.

„Euphoria“ verschaltet Fragen über die „richtigen“ Forschungsmethoden – die Ethnologie steht in den dreißiger Jahren noch einigermaßen an ihren Anfängen – mit dem Problem, wie sehr ein Beobachter einerseits seinen beobachteten Gegenstand verändert und wie sehr er anderseits beim Beobachten sich selbst beobachtet. Stones These, dass Geschlechterrollen nicht angeboren, sondern kulturell bestimmt sind – eine der wichtigen Erkenntnisse von Margaret Mead –, erprobt die Forscherin daher im kleinen Maßstab zugleich in ihrem näheren Umfeld.

Was zu Komplikationen führt: Ihr Mann Fen hatte zuvor schon Stones Beziehung zu ihrer Lehrerin Helen Benjamin gewaltsam beendet und auch in ihrer entstehenden Beziehung zu Bankson ist allein Fen, der beim Paarverhalten für klassisches Besitzdenken steht, ein wirkliches Hindernis. Ironischerweise deutet King an, dass Fen sich ebenfalls zu Bankson hingezogen fühlt.

Blick für die Barbarei

Fen steht zudem für die problematischen Aspekte der Ethnologie. Sein Bekenntnis gegenüber Bankson: „Ich hatte schon immer einen Blick für die Barbarei unter dem Firnis der Zivilisiertheit“, wird sich bei ihm später auf blutige Weise bestätigen, als er versucht, an eine wertvolle Flöte zu gelangen.

Lily King hat die Gegenden, in denen ihr Roman spielt, nicht selbst bereist, sie schildert die Orte vermittelt durch die Darstellungen Meads. Doch geht es ihr auch gar nicht so sehr um authentische Landschaftsbeschreibungen als vielmehr um ein Ausbuchstabieren der inneren Regungen ihrer Figuren.

Die Erzählung entwickelt sich vorwiegend aus der Ich-Perspektive, bei der King die Erinnerungen Banksons mit Auszügen aus den Notizbüchern Nell Stones abwechseln lässt. Stone protokolliert darin nicht nur ihre Eindrücke der erforschten Stämme, sondern auch der Dynamik zwischen ihr, ihrem Mann und Bankson.

Bei beiden, Stone und Bankson, herrscht ein nüchterner, unsentimentaler Stil vor, der zu den großen Stärken des Romans zählt. Bankson etwa bezeichnet den Austausch zwischen Nell und sich als einen „Koitus der Seelen“, anderseits muss er mit seiner Fassung ringen, als er erfährt, dass sie von ihrem Mann ein Kind erwartet. Und wenn er auf seine körperlichen Regungen zu sprechen kommt, ist er selbst für britisches Understatement ziemlich direkt. Statt einen „sinnlichen“ Roman zu schreiben, seziert King die Sinnlichkeit. Was weit verstörender wirkt.

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