Roma-Frauen gegen Stigmatisierung: „Man muss uns die Chance geben“
Die Ressentiments gegen Sinti und Roma sind einer aktuellen Umfrage zufolge sehr groß. Gegen dieses Stigma wehren sich Hamburger Roma-Frauenl.
HAMBURG taz | 10 Uhr, Unterricht: Acht Frauen sitzen um den Tisch herum und beugen sich über die Übungsblätter. Kleine Zeichnungen von Gegenständen sind darauf abgebildet, daneben stehen einzelne Silben. „Eine Silbe ist zu viel“, erklärt die Pädagogin Regina Bakar. „Die restlichen bilden das Wort, das den Gegenstand daneben beschreibt.“ Die Schülerinnen müssen diese überschüssige Silbe bestimmen und mit den übrigen das gesuchte Wort zusammensetzen.
Die Frauen sitzen nicht in einer Schule. Sie sitzen in der Beratungsstelle Karola im Hamburger Karolinenviertel. Karola wurde vor 30 Jahren als internationaler Treffpunkt für Frauen und Mädchen gegründet und heute kommen jedes Jahr gut 50 Roma-Frauen in die Einrichtung. Sie lassen sich hier etwa beim Umgang mit Behörden beraten oder sie kommen wie die Frauen in Bakars Kurs mehrmals die Woche, um lesen und schreiben zu lernen.
Während Bakar noch die Übung erklärt, hat Melissa* bereits die Hälfte des Übungsblattes ausgefüllt. „Was soll denn die Nummer 10 darstellen?“, fragt sie in die Runde. Die Frauen um sie herum reagieren nicht, sie sind mit dem Ausfüllen der Blätter beschäftigt.
Nachholen, was sie als Kinder verpasst haben
Melissa kommt seit fünf Monaten viermal in der Woche in die Beratungsstelle Karola. Neben der Lernwerkstatt für Lesen und Schreiben besucht sie einen Grundkurs, in dem sie Rechnen lernt. Melissa Eltern sind während des Jugoslawienkriegs nach Deutschland geflüchtet, da war sie noch ein kleines Kind. Sie ist in Hamburg aufgewachsen, hat aber nie eine Schule besucht. „Meine Eltern haben es mir freigestellt, ob ich gehen will oder nicht“, sagt sie. Sie ging nicht. Nun will sie mit 31 Jahren nachholen, was sie als Kind verpasst hat.
Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihren drei Söhnen in einer Zwei-Zimmer-Wohnung in Hamburg-Horn. Die Kinder schlafen zusammen in einem Zimmer, die Eltern auf dem Klappsofa im Wohnzimmer. Seit Jahren ist die Familie auf der Suche nach einer größeren Wohnung – bisher ohne Erfolg.
Solche Lebensgeschichten können viele Roma-Frauen bei Karola erzählen. Sie sind in den 1980er-Jahren als Gastarbeiterinnen hergekommen oder in den 1990er-Jahren vor dem Krieg auf dem Balkan nach Deutschland geflohen. Viele von ihnen wurden in ihrer Heimat diskriminiert oder verfolgt – und aus diesen Erfahrungen rührt ein großes Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen wie der Schule.
Als die Beratungsstelle Karola in den 1990er-Jahren gegründet wurde, war das Misstrauen zwischen den deutschen Bewohnern des Karolinenviertels und den Roma-Flüchtlingen, die bei Verwandten im Karolinenviertel untergekommen waren, groß. „Große soziale Spannungen“ hätten das Viertel damals vor eine „harte Zerreißprobe“ gestellt, beschreibt es der Verein heute rückblickend. Aber es sei mittlerweile gelungen, das Vertrauen vieler Roma-Familien zu gewinnen.
Es gibt keine offiziellen Zahlen darüber, wie viele Roma in Deutschland Analphabeten sind. Eine repräsentative Studie der Organisation Romnokher von 2011 über die Bildungssituation von Sinti und Roma kommt aber zu dem Schluss, dass 18 Prozent der 26- bis 50-Jährigen nie zur Schule gegangen sind. 44 Prozent besuchten zwar eine Schule, haben aber keinen Abschluss gemacht.
Bei der jüngeren Generation ist das Bildungsniveau höher: Neun Prozent der bis 25-Jährigen haben keine Schule besucht. Trotzdem bleiben Hürden bestehen – und je schlechter die Bildung der Eltern, desto schwerer haben es ihre Kinder in der Schule. „Wenn ich meinem jüngsten Sohn nicht bei den Hausaufgaben helfen kann, so hilft ihm der Ältere“, sagt Melissa.
Immer auf Hilfe angewiesen
11.30 Uhr, Rauchpause. Auf der Bank draußen neben dem Eingang sitzt Adriana*. Sie kommt seit acht Monaten zu Karola, um lesen und schreiben zu lernen, Verwandte haben ihr den Treffpunkt empfohlen. „Ich kann einen Text zwar langsam lesen“, sagt sie, „wenn ich schreibe, verwechsle ich aber oft die Buchstaben oder schreibe ein Wort falsch, weil es anders ausgesprochen wird.“ Die heute 35-Jährige wurde von ihren Eltern nicht zur Schule geschickt. Aus Angst, Adriana könnte dort Kontakt mit Jungs haben und einen Fehler machen, wie sie sagt.
„Wenn ich auf dem Amt ein Formular ausfüllen muss, dann bitte ich jemanden auf dem Flur, mir zu helfen“, sagt Adriana. Sie sucht seit fünf Jahren eine Arbeit. Bisher erfolglos. „Wenn ich sage, dass ich Analphabetin bin, lautet die Antwort im besten Fall ’Wir rufen Sie zurück‘“, erzählt sie. „Dann weiß ich bereits, dass es wieder nichts wird.“
Vom Gehalt ihres Mannes, der als Lieferant arbeitet, bezahlt die Familie die Miete. Für alles andere muss Adrianas Sozialhilfe reichen. Doch oft reicht es eben nicht. „Wenn das Amt einen Fehler beim Auszahlen macht, kann es sein, dass ich meinen Kindern tagelang kein Frühstück kaufen kann“, sagt sie. In so einer Situation sei es auch schon vorgekommen, dass sie beim Supermarkt eine Packung Salami gestohlen habe. „Was soll ich machen, wenn meine Kinder nichts zu essen haben?“ Das Vorurteil, Roma wolltlen überhaupt nicht arbeiten, macht sie wütend. „Das stimmt so nicht“, sagt sie. „Wir wollen arbeiten. Aber man muss uns doch auch die Chance dazu geben.“
Vorurteile und Misstrauen sitzen immer noch tief und zwar gegenseitig – von Deutschen gegenüber Roma und umgekehrt. „Wenn ich sage, dass ich Zigeunerin bin, zucken die meisten Leute erst mal zurück“, sagt Adriana. „Dann sind sie meist positiv überrascht, dass ich so gut Deutsch spreche.“ Oft verschweigt sie einfach, eine Rom zu sein.
Vorurteile bleiben
In einer jüngst publizierten Umfrage der Universität Leipzig sagten über die Hälfte der Befragten, sie glaubten, Sinti und Roma neigten zu Kriminalität. 55 Prozent gaben zudem an, ein Problem damit zu haben, wenn Sinti und Roma in ihrer Gegend wohnten. Die Medienberichte über Armutszuwanderung aus Rumänien und Bulgarien gießen außerdem immer weiter Öl ins Feuer der alten Vorurteile.
„Die Zeitungen schreiben entweder nur von Armutszuwanderung“, sagt Regina Bakar von der Beratungsstelle Karola, „oder sie sehen die Roma als Opfer, die hilflos ihrem Schicksal ausgeliefert sind.“ Für die Pädagogin liegt die Wirklichkeit irgendwo dazwischen. Viele Roma gingen ganz normal zur Arbeit, ihre Kinder gehen zur Schule oder machen eine Ausbildung. „Bei meiner Arbeit in der Beratungsstelle habe ich aber überwiegend mit Frauen zu tun, die soziale Leistungen beziehen. Und natürlich gibt es auch unter den Roma Leute, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten“, sagt sie
Die überwiegende Zahl der Roma, die keine Schule besucht haben, bereut dies später. „Manchmal bin ich heute noch wütend auf meine Mutter, dass sie mich nicht zur Schule lassen wollte“, sagt Adriana. Dass ihre Kinder zur Schule gehen sollen, ist für sie keine Frage. Bildung sei das Wichtigste und das erzähle sie ihren Kindern auch ständig. sagt sie. „Ich will, dass meine Kinder einmal ein besseres Leben führen können als ich.“
* Namen geändert
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