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Rollentausch: Opfer werden zu Angeklagten

Umfangreichster Prozeß gegen Menschenhändler in der Bundesrepublik geht schleppend voran/ 35 ZeugInnen sollen in Essen insgesamt vernommen werden/ Wieder einmal werden Frauen vor Gericht ein zweites Mal zu Opfern gemacht  ■ Aus Essen Diemut Roether

Der sonst recht eloquente Rechtsanwalt gab sich gehemmt: Das Wort Prostitution komme ihm schwer über die Lippen, sagte er am dritten Tag des Prozesses gegen die „Künstleragentur“ Kamper vor dem Essener Landgericht. Es kostete ihn wenig Mühe, sich daran zu gewöhnen. Immerhin ist sein Mandant Reinhold Kamper, der Betreiber jener Essener „Künstleragentur“, des Menschenhandels in zahlreichen Fällen und der gewerbsmäßigen Zuhälterei angeklagt.

70 Seiten umfaßt die Anklageschrift. Mehrere hundert Filipinas soll Kamper nach Schätzung des Staatsanwaltes als Folkloretänzerinnen an einschlägige Bars in Nordrhein-Westfalen und Süddeutschland vermittelt haben. In den Bars wurden die Filipinas dazu gezwungen, als Stripteasetänzerinnen aufzutreten und im Animierbetrieb mit Kunden ins Séparée zu gehen. Auch eine zypriotische Arbeitsvermittlerin, die jahrelang mit Kamper zusammengearbeitet haben soll, steht in Essen vor Gericht.

Staatsanwalt und Presse staunen: Einem so seriös wirkenden Herrn hätten sie solch schmutzige Geschäfte gar nicht zugetraut. Kampers seriöses Auftreten überzeugte auch die Bundesanstalt für Arbeit, die ihm und seiner „Künstleragentur“ die Lizenz für die Arbeitsvermittlung erteilt hatte. Nach einer schriftlichen Anfrage im Jahr 1988, ob die vermittelten Filipinas in den Bars tatsächlich Folkloretanz vorführten, ließ die Behörde die Sache auf sich beruhen. Auch das zuständige Ausländeramt hatte gegen die Auftritte der Filipinas als Folkloretänzerinnen nichts einzuwenden. Gegen Striptease und Prostitution schon. Ausländerinnen, die in Deutschland als Prostituierte arbeiten, können wegen „Erwerbsunzucht“ abgeschoben werden.

Ausbeutung der Filipinas kannte keine Grenzen

Die Bars, an die Kamper die Filipinas vermittelte, trugen so wohlklingende Namen wie „Suzy Wong“ oder „Tabu“. Der Agent hatte seine Stammkunden. Davon, daß die Filipinas in diesen Etablissements Striptease tanzen oder mit Kunden ins Séparée gehen mußten, will er nichts gewußt haben. Wenn die Frauen sich bei ihm beschwerten und auf die Einhaltung der Verträge pochten, vermittelte der Agent sie an eine andere Bar, in der wiederum Striptease und Séparée gefragt waren. Weigerte sich eine Frau, das Spiel länger mitzumachen, oder drohte sie, zur Polizei zu gehen, zeigte der Agent sie an und ließ sie als Prostituierte abschieben. Eine billige Art, unbequeme Zeuginnen loszuwerden.

Neben dieser „Betreuung“ südostasiatischer Folkloretänzerinnen vermittelte die Essener „Künstleragentur“ in den vergangenen Jahren auch deutsche Stripteasetänzerinnen an Nachtclubs. Bekam der Agent von deutschen Frauen sechs Prozent ihrer regelmäßigen Einnahmen, so kassierte er von den Filipinas zehn Prozent Provision. Und die Filipinas zahlten pünktlich. „Da gab es nie Außenstände“, erinnert sich eine ehemalige Mitarbeiterin von Kamper. Auch wenn es um die Beteiligung am Getränkeumsatz ging, gab es unterschiedliche Sätze: An einer Flasche Sekt, inklusive Gang ins Séparée, verdienten die Filipinas 20 bis 30 Prozent, deutsche Frauen dagegen 50 Prozent. Eine Zeugin, die mit den Filipinas zusammenarbeitete, berichtet im Prozeß von „extremen Unterschieden zwischen deutschen und ausländischen Frauen“. Beispielsweise hätten die Filipinas den Barbesitzern „richtig Cash“ für den Strom zahlen müssen.

Vor drei Jahren wurde die Staatsanwaltschaft auf die Essener Agentur aufmerksam, als sie wegen illegaler jugoslawischer Leiharbeiter ermittelte. Ein halbes Jahr lang wurden die Telefonate Kampers mit seinen Kunden abgehört. Der jetzige Prozeß ist einer der umfangreichsten Menschenhandelsprozesse, die in der Bundesrepublik bislang geführt wurden. Was hier sichtbar werde, sei jedoch „nur die Spitze des Eisbergs“, meint Staatsanwalt Hans- Dieter Bamler. Insgesamt 35 Zeuginnen und Zeugen sollen vernommen werden. Doch die meisten der betroffenen Frauen sind bereits in ihr Heimatland abgeschoben worden. Einige von ihnen sind inzwischen in Deutschland mit Männern aus dem Milieu liiert und wollen oder dürfen nicht aussagen. Keine der Filipinas spricht gut Deutsch, eine Dolmetscherin übersetzt die Fragen in ihre Landessprache Tagalog und ihre Antworten ins Deutsche. Doch präzise Übersetzungen sind unmöglich. Die Vernehmungen ziehen sich ins Endlose, die Atmosphäre im Gerichtssaal ist gespannt. Von Anfang an profiliert sich die Verteidigung mit zeitraubenden Anträgen und Erklärungen.

Zeuginnen im Kreuzverhör

Gericht, Staatsanwalt und die vier VerteidigerInnen befragen die Zeuginnen, die im Gerichtsjargon nur „die Mädchen“ heißen, nach ihrer Herkunft, nach ihrem Weg über Zypern nach Deutschland und nach ihrer Arbeit. Sie jonglieren mit Ortsnamen in fremden Sprachen und Geldsummen in fremden Währungen. Der Verteidiger, dem das Wort Prostitution so schwer über die Lippen kam, interessiert sich besonders für die Einnahmen der Zeuginnen, wenn sie mit Kunden „Sex ausübten“. Seine Lieblingsfrage: „Haben Sie diese Einkünfte auch versteuert?“ Wenn's ums Geld geht, gleichen die Fragen der Verteidigung einem Kreuzverhör. Kein Wunder, daß viele der Frauen sich in Widersprüche verwickeln oder die bei der Polizei gemachten Aussagen zurücknehmen. Eine Prozeßbeobachterin der katholischen Frauenorganisation Solwodi beurteilt das Klima als „sehr aggressiv“.

Menschenhandel ein Kavaliersdelikt?

Für eine Zeugin errechneten die Anwälte — zynischerweise — einen Jahresverdienst von 60.000 Mark. Auch Pässe und Aufenthaltsgenehmigung sind beliebter Gegenstand der Befragung. Denn hier geht es nicht um die Sache, es geht um Formalitäten. Gelegentlich bricht sich auf seiten der Verteidigung offener Zynismus Bahn und gipfelt in lautem Gelächter oder Bemerkungen wie: „Das ist ja nett von Ihnen, daß Sie Geld nach Hause geschickt haben.“

Zeuginnen werden in Essen behandelt, als säßen sie auf der Anklagebank. Manchmal scheint es, als verlöre das Gericht die tatsächliche Anklage auf schweren Menschenhandel aus dem Auge. Den beiden Angeklagten muß nachgewiesen werden, daß sie die Frauen gezwungen haben, sich zu prostituieren. Doch was Zwang ist, davon haben Juristen ihre eigenen Vorstellungen. Laut gängiger juristischer Auffassung kann eine Frau, die sich einmal prostituiert hat, nicht zur Prostitution gezwungen werden. Auch nicht, wenn sie vor der Wahl steht, einzuwilligen oder als Ausländerin mittellos abgeschoben zu werden.

Dank dieser Rechtsauffassung kamen die meisten Menschenhändler, die in der Bundesrepublik in den letzten Jahren verurteilt wurden, mit Strafen zwischen zwei und vier Jahren davon. Die „Arbeitsgemeinschaft gegen internationale sexuelle und rassistische Ausbeutung“ (Agisra) kritisiert diese Rechtsprechung, die zwischen „guten“ und „schlechten“ Frauen unterscheidet. Die Agisra-Frauen fordern eine Änderung der Menschenhandelsparagraphen 180 und 181. Daß die derzeitige Gesetzgebung kaum eine Handhabe gegen Menschenhändler gibt, haben inzwischen auch Politiker erkannt. Im Februar debattierte der Bundestag erstmals über einen von den Ländern Bayern und Nordrhein-Westfalen gemeinsam im Bundesrat eingebrachten Entwurf. Doch mit geänderten Paragraphen allein ist es nicht getan. Für besonders wichtig hält die Duisburger Rechtsanwältin Sabine Weiss-Uliczka einen wirklichen Zeuginnenschutz und eine begleitende Änderung des Ausländerrechts. Weiss-Uliczka verweist auf die benachbarten Niederlande, wo Ausländerinnen, die in Menschenhandelsprozessen ausgesagt haben, auch nach Prozeßende im Land geduldet werden. Denn Frauen, die vor ihren Zuhältern genausoviel Angst haben müssen wie vor der Ausländerpolizei, sind keine guten Zeuginnen der Anklage. „Frauen dürfen nicht vor Gericht ein zweites Mal zu Opfern gemacht werden“, fordert die Rechtsanwältin. Jede Zeugin, die in einem solchen Prozeß aussagt, habe das Recht, von einem Rechtsanwalt oder einer Anwältin begleitet zu werden. Solange die Frauen darüber nicht aufgeklärt würden, rate sie keiner auszusagen. Auch in Essen hat niemand die Filipinas auf ihre Rechte hingewiesen.

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